Berlin/ Philharmonie: „Welcome Back Week“ bis Saisoneröffnung, 21. – 27.08. 2021
Nach mehrmaligen Lockdowns konnten die Berliner Philharmoniker mit ihrem Chef Kirill Petrenko im Spätsommer wieder aufatmen und ihr Publikum ebenfalls. Seit dem 16.08.2021 dürfen im Großen Saal maximal 2.000 Menschen ohne Abstand sitzen, das sind etwa 80 % der verfügbaren Plätze. Der Kammermusiksaal darf sogar voll belegt werden.
Die Tickets können auch wieder der Konzertkasse im Foyer zu den Öffnungszeiten gekauft werden. Doch nur doppelt Geimpfte, Genesene und innerhalb von 24 Stunden Getestete dürfen in den weltbekannten Scharoun-Bau, dem sogar ein Testzentrum angeschlossen ist.
Draußen vor den Eingängen wird alles genau kontrolliert, auch der Ausweis oder Reisepass. Die persönlichen Daten müssen hinterlegt werden. Anders als in sonstigen Kulturhäusern gilt in der Philharmonie Maskenpflicht auch während der Konzerte.
Um das Publikum nach den Corona bedingten Spielpausen und trotz der Hygiene-Vorschriften wieder oder erstmalig in diesen Musiktempel zu locken, haben sich die Berliner Philharmoniker noch vor der offiziellen Spielzeiteröffnung 2021/22 etwas Besonderes einfallen lassen: eine preiswerte Willkommenswoche vom 21. – 26. 08., weltstädtisch „Welcome Back Week“ genannt. Wir sind wieder da, und Ihr seid willkommen – war die Botschaft, und sie wurde verstanden. Die zumeist einstündigen Darbietungen waren inhaltlich sehr unterschiedlich. Für jeden/jede das Seine oder Ihre, aber mit der Chance, etwas Neues zu hören.
Den Auftakt machten Orgelkonzerte in der benachbarten St. Matthäus-Kirche, gefolgt von der „STEGGREIF.orchester Jazzrausch Bigband“ und einem erneuten Orgelkonzert, das aber im Großen Saal der Philharmonie.
Drinnen ging alles glatt, und Hochkarätiges wurde von den Berliner Philharmonikern und ihren „Ablegern“ geboten. Daher war das Philharmonische Oktett Berlin ebenso zur Stelle wie die hiesige Karajan-Akademie, die bekannten 12 Cellisten der Berliner Philharmoniker und das Philharmonische Streichquartett, das sogar Wiener Kaffeehaus-Flair vermittelte.
Ana Moura, die „Fado-Königin“, kam und brachte portugiesische Melancholie nach Berlin. Das Omer Klein Trio fehlte ebenfalls nicht. Besonderes hatte sich Tabea Zimmermann, eine der besten Bratschistinnen weltweit, ausgedacht.
In der vorigen Saison war sie Artist in Residence bei den Berliner Philharmonikern und erhielt 2020 außerdem den Ernst-von-Siemens-Preis, quasi den Musik-Nobelpreis. Sie hatte die Altistin Gerhild Romberger herangeholt, um mit ihr das selten zu hörende Paul-Hindemith-Werk „Die junge Magd“ im Kammermusiksaal aufzuführen.
Mit neun Darbietungen etwa im Stundentakt – mal im Großen Saal, mal im Kammermusiksaal – wurde der 22. August zum Supersonntag. Nur die „Vokalhelden“, Schüler aus verschiedenen Berliner Stadtteilen, die im Garten der Philharmonie „Singen macht Spaß!“ verkünden wollten, mussten regenbedingt leider auf ihren Auftritt verzichten.
Insgesamt betrachte1, lassen die genannten Beispiele erkennen, dass die Berliner Philharmoniker als Weltklasse-Orchester und ihre dazu geholten Gäste dem durchaus neugierigen Publikum auch Weltklasse-Konzerte geboten haben, wohl wissend, dass viele Besucherinnen und Besucher gar nicht abschätzen konnten, welch edle Gourmet-Mahlzeiten ihnen geboten wurden.
Es ging wohl hauptsächlich darum, denjenigen Appetit auf mehr zu machen, die bisher sehr selten oder gar nicht in die Philharmonie gegangen sind. Außerdem wollte man sicherlich auch die jungen Leute ansprechen, das erhoffte Publikum von morgen.
Diese Rechnung ging auf. Aufgrund der niedrigen Ticketpreise hatten offensichtlich nicht wenige sogleich Karten für mehrere Konzerte gekauft und sind von einem „Event“ zum nächsten gegangen. Das konnte ich mir leider zeitlich aus Termingründen nicht leisten.
Meine Wahl fiel an diesem 22.08. auf die Bläser, die sich zunächst zu neunt, fast einen Halbkreis bildend, auf der Bühne im Großen Saal aufreihten. Links außen – aus Sicht des Publikums – Emmanuel Pahud, seit mehr als zwei Jahrzehnten Solo-Flötist der Berliner Philharmoniker und ein Weltstar sowieso. Der Hornist Stefan Dohr gehört ebenfalls in diese Liga.
Sie alle legten sich ins Zeug, und Pahud hatte offenbar besonderen Spaß an diesem Auftritt. Der musizierte mit seinem ganzen Körper und tänzelte beim Flöten locker und oft lächelnd von einem Fuß auf den anderen. Musik im Stehen zu machen, schien allen zu gefallen.
An Pahuds Seite (erst im 2. Stück) die Flötistin Jelka Weber. Es folgen gen rechts die Oboisten Jonathan Kelly und Yijea Han (seit 2018 Stipendiaten der Karajan-Akademie), die Klarinettisten Wenzel Fuchs und Andraž Golob, danach Stefan Schweigert und Mor Brion (letzterer vom West-Eastern-Divan Orchestra), beide Fagott, und schließlich die Hornisten Stefan Dohr und Johannes Lamotke.
Ganz selbstverständlich haben sie alle ihren Sonntag zur Verfügung gestellt und Raritäten geboten. Zuerst die kaum bekannte „Petite Symphonie für 9 Bläser“ von Charles Gounod, die er altersweise als 67Jähriger komponierte. Die Musik schwebt dahin, und beim Scherzo winden die Bläser, insbesondere Pahud, dem Komponisten posthum einige Girlanden. Deutlicher Beifall danach im gut besetzten Saal.
Bläserkonzert Welcome Back-Week, 22.08.2021 Philharmonie. Foto: Lena Laine
Gleich danach die „Sinfonietta für zehn Bläser op. 188“ von Joachim Raff (1818-1893). Wer ist denn das? Der war zeitweise Privatsekretär von Franz Liszt und hat sich bei seinen originellen Klangeffekten vielleicht vom Meister inspirieren lassen.
Denn dieses kleine 4-sätzige Werk bringt sehr viel mehr klingenden Farbreichtum als das Stück vom Gounod. Beim Allegro starten die Hörner charmant, danach wird es ziemlich feierlich.
Das recht lange Larghetto ist besonders fein ausgemalt, schwebt so dahin und landet schließlich im Mollbereich, gefolgt vom Vivace. Letzteres ist wirklich eines und wird mit Bravour dargeboten. Das hat gefunkt. Das überwiegend junge Publikum ist begeistert und spendet intensiven Applaus. Mission erfüllt, lässt sich dazu sagen.
Am 26. August bin ich erneut in der Philharmonie, und habe aus Wettergründen auf Kirill Petrenkos Waldbühnen-Debüt verzichtet. Der Spielplan zeigte ja an, dass Petrenko tags darauf zur Saisoneröffnung das gleiche Programm dirigieren würde. Tatsächlich hat es an diesem Waldbühnen-Abend, der eigentlich im Juni stattfinden sollte, richtig geschüttet. Den 6.000 Besucherinnen und Besuchern – anstatt von 10.000 möglichen – soll dieses Konzert dennoch sehr gefallen haben.
Chamber Orchestra of Europe. Solisten Veronika Eberle und Amihai Grosz. Foto: Lena Laine
Im trockenen Saal der Philharmonie war gleichzeitig das bekannte Chamber Orchestra of Europe engagiert tätig. Das Konzert begann mit einem Jugendwerk von Richard Strauss, der Serenade für Blasinstrumente Es-Dur op. 7. Dieses kurze Stück gab zumindest für mich nicht viel her und wirkte, als sei es zu Übungszwecken komponiert.
Anschließend die Symphonie Nr. 60 C-Dur „Il distratto“ von Joseph Haydn, ein längliches Werk, das wohl witzig sein sollte.
„Il distratto“ bedeutet der Zerstreute. War also Haydn beim Komponieren auch mal zerstreut? Oder wollte er die Zuhörenden amüsieren, sie auf den Arm nehmen oder Schläfrige aufwecken? Seine drei (!) Adagios werden nie ganz fertig, sondern stets von lauten, heftigen Passagen unterbrochen.
Konzertmeisterin Lorenza Borrani, eine schlanke, sportliche Frau, dirigiert das 6-sätzige Stück von ihrem Platz aus und macht das Bestmögliche daraus. Dem Publikum hat’s wohl gefallen. Es applaudierte nach jedem Satz.
Mozarts kurze Maurerische Trauermusik KV 477 war dagegen das reinste Labsal, und zum Hochgenuss wurde schließlich seine Sinfonia concertante in Es-Dur, KV 364, zumal wenn die beiden Solisten auf den Plan treten. Janine Jansen musste krankheitsbedingt absagen, wurde aber Veronika Eberle, auch weltweit gefragt, allerbestens ersetzt.
Mit Amihai Grosz, 1. Solo-Bratscher der Berliner Philharmoniker, hatte sie einen großartigen Partner, und er mit ihr die perfekte Partnerin. Sie sollen sich untereinander austauschen, ist die Idee, und das gelang den beiden alsbald überzeugend. Amihai Grosz schaute auch gelegentlich in die Runde und gab sich ganz locker.
Ausschlaggebend für diese großartige Leistung waren sicherlich auch die fabelhaften Instrumente der beiden. Dass Frau Eberle auf einer Stradivari (von 1700) spielt, war sofort klar. Als ein wahres Klangwunder erwies sich auch die Viola von Amihai Grosz – eine Gasparo da Salò aus dem 16. Jahrhundert, sein Leihinstrument auf Lebenszeit.
Wenn die beiden Solisten in Mozarts Meisterwerk miteinander kommunizierten, herrschte totale Stille im Saal, insbesondere beim innigen Andante, während beim Presto die Bögen der beiden zu fliegen schienen. Diese Mozart Sinfonia, auf solche Art dargeboten, wurde zu einem beglückenden Erlebnis. Das haben alle gespürt und so anhaltend applaudiert, dass die beiden Künstler noch eine Zugabe spendierten: Mozarts Duo für Violine und Viola G-Dur KV 423.
Berliner Philharmoniker mit Kirill Petrenko. Bejubelte Saisoneroeffung 2021-22. Foto: Stefan Rabold.
Am 27. August, zur offiziellen Saisoneröffnung, beweisen die Berliner Philharmoniker mit ihrem Chef Kirill Petrenko im Großen Saal ihre Sonderklasse bei der Präsentation der Romantik. Die soll die ganze Spielzeit 2021/22 prägen.
Mit der Ouvertüre zu Carl Maria von Webers Oper Oberon, ist der Einstieg perfekt. Alles scheint zu schweben, wenn zunächst nur das Horn von Stefan Dohr erklingt und den Saal in ein Waldidyll mit Feen und sonstigen Geistern verwandelt. Das ist fast zum Dahinschmelzen, auch Petrenko und die Philharmoniker kosten das aus.
Doch auf dieses echt zauberhafte Adagio folgt ein Allegro con fuoco und macht klar, dass die Romantik Abgründe besitzt. Glück und Unglück liegen für die Menschen nahe beieinander. Die Streicher singen und raunen, die Töne tänzeln, doch danach wird kräftig zugepackt. Petrenko dirigiert mit swingendem Körper.
Für Paul Hindemith muss Carl Maria von Weber ein Leitstern gewesen, hat er doch aus dessen Themen seine Symphonischen Metarmorphosen entwickelt. Hindemith setzt musikalisch alles ein, was zwischen Ruhe und Lärm zur Verfügung steht, fügt Jazz und Marschmusik hinzu und verpasst äußerst dynamisch dem Herrn Weber im nach hinein einen modernen Anzug.
Steht er ihm? Hindemith selbst sagte laut Programmheft: „Jeder Hörer, der die vierhändigen Originale kennt, wird zugeben müssen, dass dieser Aufwand für die Transformationen sehr viel größer ist als der, den Weber hatte.“ Wie wahr
Zuletzt und erstmalig dirigiert Kirill Petrenko als Höhepunkt des Abends Franz Schuberts Symphonie Nr. 8 C-Dur, die „Große“ genannt. Erneut macht das Horn den Anfang, und es scheint zu fragen, wie das Leben wohl weitergeht. Fröhlichkeit und tänzerische Lebensfreude wechseln im Verlauf mit Trauer und Verzweiflung. Die Romantik meint den einzelnen Menschen. Entsprechend groß sind die Kontraste, die Petrenko und die Philharmoniker mit Verve gestalten.
Schubert hat hier, gut zwei Jahre vor seinem frühen Tod, sein ganzes Können abgerufen und ein Reich von Musikfarben eingesetzt, helle und düstere. Die werden nun in vier Sätzen von Petrenko mit totalem Körpereinsatz und von den Philharmonikern mit viel Leidenschaft zum Leuchten gebracht. Wie wunderbar zieht das Adagio durch den Saal, doch diesem schönen Traum folgt das Unerbittliche. Blech und Schlagwerk lassen daran keine Zweifel.
Schubert hat Beethoven sehr verehrt, und nicht nur er fühlte sich klein neben diesem Klassik-Titanen. Danach selber eine Sinfonie zu komponieren, brauchte Mut, und er hat ihn entwickelt. Im letzten Satz schimmert sogar Beethovens „Freude, schöner Götterfunken“ auf.
Doch Schubert, noch heute vor allem als Komponisten der „Winterreise“ oder schöner Kinderlieder zu betrachten, ist überholt. Das beweisen nun der „Schubert-Neuling“ Petrenko und seine grandiosen Instrumentalisten.
„Franz, Du bist doch genau so gut wie Beethoven“, möchte frau dem Zweifelnden posthum zurufen. In der Berliner Philharmonie wurde das gerade bewiesen und die Darbietung zu recht mit „Standing Ovations“ gefeiert.
Ursula Wiegand