Berlin/ Philharmonie: Silvesterkonzert 2020 der Berliner Philharmoniker als Stream, 31.12.2020 und 01.01.2021
Berliner Philharmoniker, Kirill-Petrenko. Gitarrist Pablo Sainz Villegas. Foto: Stephan Rabold
„Ende gut, alles gut“, hätten sicherlich viele gerne am 31.12.2020 gesagt. Die weitgehend zuversichtliche Stimmung vom Jahresbeginn, wurde jedoch durch die weltweite Corona-Pandemie schon im Frühjahr in ihr Gegenteil verkehrt. Auch der Kultursektor bekam das durch wiederholte Shutdowns deutlich zu spüren.
Aus diesem Grund fielen die geplanten Feiern zu Beethovens 250. Geburtstag weitgehend aus und damit auch das Gastspiel der Berliner Philharmoniker zu Ostern in Baden-Baden. Dort und anschließend in Berlin wollten sie unter der Leitung ihres Chefs Kirill Petrenko „Fidelio“ konzertant aufführen.
Bei dem aus der Philharmonie gestreamten Silvesterkonzert haben sie dem großen Klassiker mit der „Leonoren-Ouvertüre Nr. 3“ C-Dur, op. 72a nochmals gehuldigt, ohne danach zu fragen, ob dieses Stück die richtige Wahl für den Jahres-Kehraus ist.
Da diesmal jedoch kein Anlass für Jubel, Trubel, Heiterkeit bestand, passte die Leonoren-Ouvertüre gut zum Corona-Jahr 2020 und auch zum politischen Umfeld in manchen Ländern. Außerdem spielt „Fidelio“ in Spanien, dem der größte Teil dieses Konzertes gewidmet war. Von „Freude, schöner Götterfunken“ – sonst bevorzugt zum Jahreswechsel – konnte ohnehin keine Rede sein.
Jedenfalls haben Petrenko und sämtliche Instrumentalisten/innen, die ebenfalls ein enttäuschendes Jahr hinter sich haben, viel Herzblut und all’ ihr phänomenales Können in dieses Beethoven-Werk investiert, das nicht nur Unterdrückungsmechanismen und die Leiden eines Einzelnen (Florestan) aufgreift. In „Fidelio“ geht es letztendlich um die Rettung eines Menschen durch eine liebende mutige Person. Daher tun in der leeren Philharmonie, die selbst ohne Publikum ein Akustik-Wunder ist, alle mit spürbarem Einsatz das Ihre, um diese Hoffnungsbotschaft per Stream in die Welt zu schicken.
Wie entschlossen und ernsthaft Petrenko diese Aufgabe angeht, zeigen sein ganz nahe zu sehendes Gesicht und seine zunächst strenge Gestik. Mit Power kommen die ersten Takte, und die Steigerungen sind wirklich welche. Im Verlauf lockert sich dieser Zugriff, melodiös klingt die Arie des Florestan an, und Petrenko genehmigt sich ein Lächeln.
Derweil streift die Kamera über das Orchester, nimmt außer ihm oft den international hochgeschätzten Solo-Flötisten Emmanuel Pahud ins Visier, um dann ganz genau die Fingerfertigkeit weiterer Holz- und Blechbläser zu zeigen. Und liegt es an der Übertragungstechnik und der im Saal gut platzierten High-class-Mikrofone, dass mir der Klang der Kontrabässe besonders satt und volumig ins Ohr quillt?
Danach geht’s aus dem nasskalten Berlin angenehmerweise wirklich nach Spanien, ohnehin ein Lieblingsreiseziel der Deutschen. Passend dazu bringt Manuel de Falla (1876-1946) mit „El amor brujo“ und dem dazugehörigen „Feuertanz“ durch dessen rasante Rhythmen und schillernde Klangfarben plötzlich Pepp in den leeren Saal. Mit gestoßenen Tönen wird vermutlich ein böser Geist vertrieben.
Wäre die Philharmonie so ausverkauft wie bei den bisherigen Silvesterkonzerten, könnte diese temperamentvolle Darbietung das Publikum aus den roten Sesseln katapultieren. Es sind auch noch Einflüsse der „Zigeunermusik“, die diesen „Feuertanz“ so mitreißend machen. (Anmerkung: in Spanien nennen sich die „Zigeuner“ ganz selbstverständlich Gitanos).
Noch erkennbarer hat dieses gut gepflegte Erbe die Gitarren-Musik geprägt, die so typisch für Spanien ist, sich aber im Laufe von Jahrhunderten noch aus weiteren Quellen gespeist hat. Den Süden des Landes eroberten ab 711 die Araber und errichteten rund um Córdoba das hoch kulturelle Reich Al-Andalus.
Nach dem Sieg der Spanier im Jahr 1492 über die Kalifen dauerte es nicht lange, bis das katholische Spanien durch den Habsburger Karl V (1500 – 1558) zur Weltmacht aufstieg. 1520 wurde er im Aachener Dom gekrönt, 10 Jahre später von Papst Clemens VII zum Kaiser des „Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation“ erhoben. Damit herrschte er über ein „Reich, in dem die Sonne nicht untergeht“. Entsprechend waren auch die kulturellen Einflüsse.
All das scheint noch Eingang gefunden zu haben in das weithin bekannte „Concierto de Aranjuez“ für Gitarre und Orchester von Joaquín Rodrigo (1901-1999), das 1940 uraufgeführt wurde. Mit seiner Musik beschrieb er die wunderbaren Gärten des südlich von Madrid gelegenen Königlichen Palastes von Aranjuez.
Wie die aussahen, schilderte ihm seine Frau Victoria, war doch Rodrigo 1906 bei einer Diphterie-Erkrankung erblindet. Noch besser beschreibt Pablo Sáinz-Villegas, momentan der wohl weltbeste Gitarrist, die Schönheit dieser Gärten. Im Hintergrund lässt Pahuds Flöte die Vögel singen.
Auch der leiseste Ton, den seine schmalen Finger dem Instrument entlocken, ist präzise gesetzt und ganz klar zu vernehmen, auch jede Gesichtsregung ist dank des Streamens zu sehen. Sofort wird er zum Hauptziel der Ton- und Kamera-Meister.
Denn erstmalig wurde mit ihm ein Gitarrist als Solo-Gast von den Berliner Philharmonie in ihr Haus eingeladen, ein jedoch bescheiden auftretender Könner, der normalerweise wie sie weltweit konzertiert und sich – genau wie sie – durch Nahaufnahmen nicht ablenken lässt.
Wie aber frühere Youtube-Aufnahmen von Sáinz-Villegas zeigen, hat er es gelernt, nicht alle seine Gefühle in Mimik zu übersetzen. Erhalten bleibt jedoch, wie sehr er sich in die Musik vertieft.
Im zweiten Satz, dem Adagio in h-Moll, versenkt er sich, oft mit geschlossenen Augen, in die Trauer des Komponisten, dessen erster Sohn tot geboren wurde, ein Schicksalsschlag für ihn und seine Frau, um deren Leben er ebenfalls bangt. Dieses oft gehörte Stück wird bei Sáinz-Villegas zu einer intensiv-glaubwürdige Klage und an diesem Abend zu einem frisch geschliffenen Edelstein.
Noch bekannter und manchmal „abgenudelt“ wirkend ist die melodiöse „Spanische Romanze“, ein Pflichtstück für jeden Gitarristen. Wer sie schuf, ist ungeklärt, Anonymus steht richtigerweise im Programm.
Die Noten hat der Gitarrist Fernando Sor im 19. Jahrhundert notiert, aber nie behauptet, dass es sein eigenes Stück wäre. Narciso Yepes, der mitunter noch als Komponist genannt wird, hat diese eingängige Melodie lediglich für den Nachkriegsfilm „Jeux Interdits“ (Verbotene Spiele) arrangiert, der preisgekrönt und in vielen Ländern gezeigt wurde.
Das hat diese „Spanische Romanze“ zum weltweiten Ohrwurm gemacht, und sie wurde auch mit einem schmachtenden Liedtext versehen. Gerade solch allgemein Bekanntes und Beliebtes kitschfrei und wie neu zu spielen, ist die eigentliche Herausforderung. Pablo Sáinz-Villegas hat sie bestanden, und „Standing Ovations“ wären ihn in der früheren Normalität sicher gewesen.
Mit dem Orchesterwerk „Bachianas Brasileiras“ Nr. 4, komponiert vom Portugiesen Heitor Villa-Lobos (1887-1959), setzten die Berliner Philharmoniker nun ganz andere Akzente. Petrenko erklärt diese Wahl als Solidaritätszeichen für Brasilien, das so stark von der Corona-Pandemie getroffen sei.
Immerhin war und ist Villa-Lobos der bekannteste Komponist Brasiliens und ein unglaublich fleißiger außerdem. Doch nur weniges ist international so erfolgreich geworden wie seine 9’er Serie der Bachianas Brasileiras. Es sind Suiten, basierend auf Brasiliens Volksweisen, doch gearbeitet in polyphonem Stil, wie es einst Johann Sebastian Bach tat, der für Villa-Lobos schon in jungen Jahren zum Vorbild wurde.
Barock und Brasilien passt hörbar gut zusammen, denn Petrenko und die Seinen bringen diese Musik zum Leuchten und erfassen auch ihre changierenden Rhythmen. Die Bläser sind mitunter im Großeinsatz, intonieren Choräle, geben sich in der Aria munter und auch mal etwas dissonant. Petrenko ist jetzt ganz bei sich, und das Orchester folgt ihm mit Vehemenz. „Danza“ heißt der letzte Satz und trägt den Zusatz animato. Doch das muss niemand Petrenko und den Philharmoniker vorschreiben. Diese Musik reizt eh dazu. Und wie gerne spielen sie mal etwas nicht Alltägliches, gerade jetzt, obwohl sie nur fürs dankbare Publikum daheim tätig sind.
Eine ziemliche Überraschung war auch das Capriccio Espagnol von Nikolaj Rimsky-Korsakow, uraufgeführt 1887. Spanisches Temperament war nun wieder gefragt und ist – unterstützt von exaktesten Schlagzeugeinsätzen – von allen perfekt und mit sichtlicher Spielfreude dargeboten worden.
Mit gesamt-orchestralen Optimismus wurde zuletzt ein Sonnenaufgang zelebriert. Der richtige Auftakt für 2021, für das wir uns Sonne in allen Lebensbereichen wünschen.
Ursula Wiegand