SF Symphony Youth Orchestra und Christian Reif. Photo: Stefan Cohen
BERLIN / Philharmonie: SAN FRANCISCO SYMPHONY YOUTH ORCHESTRA, 29.6.2019
Standing Ovations und ein a cappella Chor zum Abschied
Der Große Saal der Berliner Philharmonie gehörte an diesem Abend ganz einer Hundertschaft junger amerikanischer Musikerinnen und Musikern. Die Berliner Philharmoniker unter Dirigent Tugan Sokhiev hatten Platz gemacht und absolvierten gleichzeitig ihr jährliches Freiluftkonzert in der Gluthitze der Waldbühne.
Auf dem Programm stranden als Hommage an den Berliner genius loci und Link zur amerikanischen Musik Detlev Glanerts Präludium Nr. 1 aus „Three American Preludes“, das Violinkonzert in D-Dur Op. 35 von Pjotr I. Tchaikovsky sowie Gustav Mahlers Symphonie Nr. 1 in D-Dur, „Titan“.
Der junge deutsche Dirigent Christian Reif, seit 2016/17 Resident Conductor der San Francisco Symphony und Musikdirektor des Jugendorchesters, hat ganze Probenarbeit geleistet. Die jungen überaus professionellen Youngsters im Alter von gerade einmal 12 bis 21 Jahren, gerade aus dem laufenden Schuljahr entlassen, werden jede Woche von Mitgliedern des San Francisco Symphony unterrichtet, bevor sie mit Christian Reif als Gesamtensemble proben. Die elfte internationale Konzertreise hat sie nun an die Philharmonie in Berlin geführt.
Klingt Detlev Glanerts sechsminütiges Präludium in den Fanfaren der Bläser noch arg grob und scharf, beginnt das vor Energie berstende Orchester bei den jazzigen Rhythmen im zweiten Teil Boden zu fassen. Dennoch: Mehr als eine Einstiegsübung ist die Wiedergabe von Glanerts plakativer Komposition nicht geworden.
Bei Tchaikovskys Violinkonzert beeindruckten vor allem die dynamisch wandelbaren Streicher. Die schottische Solistin Nicola Benedetti kann sich nach einem lauen Beginn im Ungefähren enorm steigern und zeigt spätestens ab der Kadenz im ersten Satz, was sie an virtuoser Violintechnik und überbordendem Musikantentum drauf hat. Da schnurren die flinken Läufe und passen die Doppelgriffe, in der Canzonetta darf sich die geigende Poetin ganz ihrer melancholisch getönten Fabulierlust hingeben. Christian Reif hat hier vor allem auf das Hinhören des Orchesters und die Zusammenarbeit mit der Solistin geachtet.
Mit welcher Präzision und rundem Ton etwa der sehr junge Solo-Flötist nach der Kadenz auf die Violine antwortet oder die Klarinettistin im zweiten Satz mit der Violine plaudert, sind bewegende Momente des Konzerts. Im finalen verspielten Allegro vivacissimo dürfen die jungen Leute aus San Francisco unter dem wie ein liebevoller, stolzer ,Big Bro‘ agierenden Dirigenten lustvoll vorwärtsdrängen, herumalbern, den Schalk im Nacken und den Schabernack in den Mienen. Zwischendurch spielen einander die Oboen und die Violine die Federbälle zu, bevor die bieneneifrigen Streicher zu ihrem musikalischen Schwarmflug im Geleit von Flöten, Hörner, Oboen und Fagott ansetzen. Nach einem äußerst herzlichen Applaus spielt Nicola Benedetti als Zugabe vor der Pause die berühmte ,Meditation‘ aus Massenets Oper Thaïs.
Als ideales Lehrstück und Vehikel für ein Jugendorchester von Weltrang darf Gustav Mahlers Erste Symphonie gelten. Hier agiert Christian Reif, Schüler von Alan Gilbert und Dennis Russell Davies, höchst meisterhaft und legt gemeinsam mit den ihm auf das kleinste Zeichen folgenden Künstlern eine spannungsgeladene, klug disponierte und dynamisch phrasierte Aufführung aufs Parkett, gediegen in den Streichern und kräftig gewürzt mit den vielen vielen kleinen Soli in Blech, Holz und Schlagzeug. Überhaupt fasziniert die Schlagtechnik des in Bayern geborenen Kapellmeisters. Während er mit der rechten Hand, das Stöckchen locker schwingend, bis ins kleinste den Takt in die Lüfte pinselt, kann er mit der Linken pastos die Dynamik steuern, Klang zurücknehmen oder in die Volle gehen. Es ist ein seltenes Vergnügen, diesen Dirigenten bei der Arbeit zu beobachten. Nach der Aufführung dieser Mahler Symphonie ist jedenfalls eine lichte Zukunft und eine große Karriere unschwer vorauszusagen. Auch verdient Respekt und Bewunderung, wie er mit dem Orchester klangspezifisch gearbeitet hat, wie Stimmungen und (große) Emotionen sich auch in differenziert abgeschattetem Zusammenspiel niederschlagen. Hier wird hörbar, wie professionell freudvoll und unter Bündelung aller Kräfte und Energien dieser fabulöse Klangkörper zu agieren vermag.
Diese einzige titanische Entfesselung an widerstrebenden Gefühlen aus der persönlichen Erfahrung des Komponisten geboren, überträgt sich an diesem Abend unmittelbar auf das Publikum. Der verschlafene Tagesanbruch mit den vielem Naturstimmen, dem in Quarten singenden Kuckuck, die militärischen Töne mit Hörnern und Trompeten aus der Ferne lassen den berühmten „Frühling ohne Ende“ Kontur gewinnen. Wunderbar, wie die einzelnen Stimmen ineinander greifen, die Soli drastischer und prägnanter, auf jeden Fall urwüchsiger klingen als wie bei einem „Erwachsenenorchester“. Deftig und tänzerisch rustikal geht es auch im robusten zweiten Wander-Satz mit Landler und Walzer zu. Als hätten die jungen Leute nie etwas anders als Wiener Musik gespielt, so selbstverständlich fließen die Dreivierteltakte, stampfen die Beine über den krachenden Kirtags-Bretterboden.
Aber auch mit dem extremen Stimmungswechsel ab dem dritten Satz nehmen uns die jungen Helden aus San Francisco an der Hand und entführen das Publikum auf einmal in eine unheimliche geisterhaft düster ironische Parallelwelt mit Totenmarsch und dem Lied „Bruder Jakob, schläfst du noch, hörst du nicht die Glocken“. Die erschöpfte Seele liegt gestrandet und lässt einen Reigen an kontrastierenden Eindrücken passieren. Nach der Reminiszenz an das Lied eines fahrenden Gesellen „Da wusst ich nicht, wie das Leben tut“ überwältigt das Orchester mit dem ohrenbetäubenden Ausbruch im letzten Satz. Hier kann der Riesenapparat nochmals all seine Trümpfe auf das beeindruckendste ausspielen. Dirigent Christian Reif ist der Arzt des in der Hölle schmorenden Herzens, aber auch der Zeremonienmeister, der den Verwundeten mit sonnenglühenden Klangballungen wieder ans Licht führt, wo die Symphonie in strahlendem D-Dur endet.
Als Zugaben erklatscht sich das begeisterte Publikum Dvoraks slawischen Tanz Op. 72/2, die „Furioso Polka“ Op. 260 von Johann Strauss sowie – aufgepasst – als Betthupferl den wunderschönen Choral „Ubi caritas“ von Maurice Duruflé, a cappella in lupenreiner Intonation ganz und gar prächtig und mit Hingabe gesungen vom gesamten Orchester.
Fazit: Ein das abgebrühteste Herz bewegender Abend, wie er nur mit einem großartigen Jugendorchester so eindrücklich erlebbar ist. Nicht perfekt, und auch nicht immer elegant ausgewogen aufgespielt, dafür mit umso mehr Animo und urtümlicher Begeisterung, als ginge es um Leben und Tod. Nicht wenige der talentierten Orchestermusiker werden in einigen Jahren an wichtigen Pulten der Sinfonieorchester in New York, Chicago, Cleveland, Boston oder Philadelphia sitzen….
Zu den Konzerten gehört auch, dass ein Teil des Publikums nach jedem Satz klatscht. Der Kenner schmunzelt und freut sich über diesen aus spontaner Begeisterung geborenen Tabubruch.
Hinweis: Wer diesen leuchtenden teilpolierten Orchester-Rohdiamanten in Wien hören will, hat dazu am Dienstag, dem 2. Juli im Goldenen Saal des Wiener Musikvereins Gelegenheit. Hingehen!
Dr. Ingobert Waltenberger
Foto: Christian Reif und das SFSYO
copyright Stefan Cohen