BERLIN / Philharmonie: Prokofiev: Symphonisches Konzert für Violoncello und Orchester e-Moll, Schönberg: Pelleas und Melisande, Symphonische Dichtung,19.9.2024
Lahav Shani dirigiert die Berliner Philharmoniker
Unernst krakeelendes Schmunzelmonster und spätromantischer Gigantismus
Alisa Weilerstein, Lahav Shani . Copyright: Monika Rittershaus
Wann hört man schon Sergej Prokofievs „Symphonisches Konzert für Violoncello und Orchester“ in e-Moll live im Saal? Die Berliner Philharmoniker hatten es jedenfalls das letzte Mal vor 30 Jahren auf dem Programm, damals unter der musikalischen Leitung von Claudio Abbado mit Natalia Gutman als Solistin.
Nun ist es die formidable US-amerikanische Cellistin Alisa Weilerstein, die die extremsten Ausdrucksskalen und den gesamten Tonumfang des Instruments gekonnt ausreizt. Prokofiev hatte ziemliche Mühsal und eine gehörige Zeitspanne zurückzulegen, bis die endgültige Form des nunmehrigen Konzerts in e-Moll feststand. Schon in den dreißiger Jahren, also vor seiner Rückkehr in die Sowjetunion, hatte Prokofiev ein Cellokonzert mit der Opuszahl 58 geschrieben. Der komplette Misserfolg nach der Uraufführung in Moskau 1938 ließ Prokofiev das Stück revidieren. Erst über Anregung seines Schülers Mstislav Rostropovich schrieb Prokofiev das Stück komplett um und veröffentlichte dieses neue Cellokonzert als Op. 125. Die Uraufführung, von Svjatoslav Richter dirigiert (es sollte des Pianisten einziger Versuch am Pult eines Orchesters bleiben), war abermals nicht so glückhaft wie erhofft. Also machte sich Prokofiev erneut ans Werk und formte vor allem den Orchesterpart gehörig in Richtung Sinfonia Concertante um. So ist es ein (noch immer ‚underrated‘) Hit geworden.
Die Berliner Philharmoniker unter der ruhig alle Zügel zusammenhaltenden Leitung von Lahav Shani hatten hör- und sichtbar (Emmanuel Pahud, Albrecht Mayer) Freude an der Umsetzung der kniffligen Partitur, die vor allem das Cello ungewohnter Weise mit Trompete und Horn, aber auch Flöte, Oboe, Klarinette in Zwiesprache (eher beschwipst ausgelassene Zurufe) treten lässt. Ich liebe dieses Stück besonders, weil es kurzweilig voller Witz sprüht und das artistisch virtuos bis kess gestrichene Soloinstrument sich bisweilen selbst auf die Schaufel zu nehmen scheint.
Alisa Weilerstein ist die fantastische Interpretin des Soloparts, technische Artistik und extrovertierten Ausdrucksgehalt gleichermaßen in die Waagschale dieses von den puren Ausmaßen und seiner launischen Verspieltheit „schmunzelmosterhaften“ Stücks werfend. Ohne Noten mit wehendem Haar geht sie dieses Meisterwerk locker an. Intervallironisch führt sie das Instrument durch alle Lagen, lässt in den lyrisch sonoren Passagen träumen wie in den rasanten 32tel Noten das Gehör kitzeln. Nach motorisch polterndem Beginn des zweiten Satzes legt Weilerstein eine wilde Kadenz hin, die ihresgleichen sucht. Augenzwinkernd hüpfende Staccati, die Lust an sachten Dissonanzen, russisch-folkloristisch angehauchte Legatophrasen, Doppelgriffe, schließlich eine Reminiszenz an „Romeo und Julia“ beschließen diesen fast 20 Minuten langen Satz. Der dritte und letzte Satz führt uns in die Welt der Variationen. Da summt und funkt es gut gelaunt zwischen Solistin und Bläsern. Glitzernde Celesta Klänge im Poco meno mosso, Trommelwumms, Tubabrummen, Posaunen, sie alle geleiten die Solistin auf ihrer spektakulären Saitenolympiade sicher in den Hafen des unerwarteten Schlusses. Als Zugabe auf den tosenden Jubel des Publikums war die von Weilerstein in leiseren Tönen vorgetragene Sarabande aus J.S. Bachs Cellosuite Nr. 4 Es-Dur zu hören.
Nach der Pause Arnold Schönbergs spätromantische, polyphone sinfonische Dichtung „Pelleas und Melisande“; Op. 5. 1902 in Berlin mit der Umsetzung begonnen, vollendete Schönberg die Partitur 1903 in Wien. Die Reaktion des Publikums auf die Uraufführung des u.a. mit acht Kontrabässen, fünf Posaunen und vier Harfen (gestern habe ich ein wenig mitgezählt) bombastisch instrumentierten, symbolistischen Stücks war vehement ablehnend. Ein Kritiker verstieg sich sogar zu der Aussage, dass der Komponist einzuweisen und Notenpapier fürderhin für ihn unerreichbar sein solle.
Jetzt ist diese Meinung über die von Maurice Maeterlincks Text inspirierte Tondichtung wohl mehr als hinfällig. Schönbergs „Pelleas und Melisande“ war Teil einer meiner frühen Abende an der Wiener Staatsoper im Oktober 1977 unter Ernst Märzendorfer, als das Stück als Ballett (mit Lilly Scheuermann und Michael Birkmeyer in den Hauptrollen) gemeinsam mit der „Josephs Legende“ von Richard Strauss gegeben wurde. Keine Frage, dass das groß besetzte Stück eine Herausforderung für jeden Spitzenklangkörper darstellt, zumal aus den geheimnisvoll mystischen Klängen ja die Handlung programmatisch erkannt werden sollte.
Trotz der orchestralen (Dauer)Überwältigung haben mich an diesem Abend die Berliner Philharmoniker unter Lahav Shani genau deshalb weniger überzeugen können. Da war zwar – wie anders nicht zu erwarten – die technische Perfektion des Orchesters zu bestaunen, aber mich irritierten dann doch die Härte des Streicherklangs und die oftmals ungebremste Lautstärke. Auch hätte ich mir mehr an dynamischer Differenzierung, Transparenz und ausgewogenerer Balance in den Stimmgruppen gewünscht (die vier Harfen waren in den großen Tutti beispielsweise für mich unhörbar). Dabei wäre es spannend gewesen, die beiden Pole der Entstehung – Berlin und Wien – klanglich intensiver erfahrbar zu machen. Im Übrigen ist auch Schönbergs „Pelleas und Melisande“ selten zu Gast in der Berliner Philharmonie. Zuletzt erklang es im Dezember 2009 unter der musikalischen Leitung von Christian Thielemann.
Fazit: Wegen des immensen Eindrucks des Symphonischen Konzerts von Prokofiev auch für mich ein persönlich lang nachhallender Konzerteindruck.
Fotos: Monika Rittershaus
Dr. Ingobert Waltenberger