Berlin/ Philharmonie: „PELLEAS ET MELISANDE“ von Claude Debussy, halbszenisch und großartig, mit Simon Rattle und Peter Sellars, 16.12.2015
Magdalena Kožená (Mélisande) und Christian Gerhaher (Pelléas). Foto: Monika Rittershaus
Oper halbszenisch – das gelingt an diesem Abend in der Berliner Philharmonie dank der Inszenierung von Starregisseur Peter Sellars ungemein überzeugend, zumal die Sängerinnen und Sänger ihre Partien nicht nur großartig interpretieren. Die „Luxusbesetzung“ ist auch schauspielerisch in der Lage, die verkörperten Figuren mit Leben zu erfüllen. Gebannt folgen die Augen den Sänger-Darstellern inmitten der von Simon Rattle geleiteten Berliner Philharmoniker.
Der abgedunkelte Bühnenraum eignet sich vorzüglich als Schauplatz dieser romantisch-symbolistischen Oper, der einzigen, die Claude Debussy jemals komponierte. Das Geschehen changiert ja zwischen Rätselhaftigkeit und Realität, und selbst diese bleibt oft unerklärlich. Kein Sopran, kein Tenor hat Platz in diesem düster-fatalistischen Werk.
Wo kommt sie her, wer ist sie, diese junge Frau, die sich Mélisande nennt und auf einem schwarzen Podest – in diese Fall ein Brunnenrand – kauert? Golaud, ein Königssohn, der sich auf der Jagd verirrt hatte, verliebt sich sofort in diese geheimnisvolle Schöne. Magdalena als Mélisande hält mit ihrem wandlungsfähigen, nie auftrumpfenden Mezzo das Geschehen während der gesamten Aufführung ganz wunderbar in der Schwebe.
Gerald Finley (Golaud) und Christian Gerhaher (Pelléas). Copyright: Monika Rittershaus
Gerald Finley als Golaud ist hier zunächst kein Brutaler, eher ein selbst Verletzter, der den Tod seiner Frau nicht verwinden kann. Er gibt sich als ein rücksichtsvoller Mann, der die Situation nicht ausnutzt, sie aber mitnimmt auf sein Schloss und sie alsbald heiratet, was nicht gezeigt wird. Beim Gespräch mit der Fremden entwickelt sein klangreicher Bassbariton berührend leise Töne. Erst später, gepackt von Eifersucht und Misstrauen, durchdringt seine Stimme mühelos den großen Saal.
Seine Eifersucht gilt dem Halbbruder Pelléas, den er einerseits noch fast als Kind betrachtet, andererseits jedoch als Nebenbuhler erkennt. Den verkörpert in idealer Weise Christian Gerhaher. So intensiv habe ich ihn noch nie spielen sehen und so hundertprozentig dem Geschehen entsprechend auch noch nie singen hören. Ihm gelingt der Spagat zwischen Verträumtheit und aufkeimender Liebe, zwischen Ängstlichkeit und Todesmut.
Behände laufen er und die anderen oft treppauf, treppab durch die Musikerreihen bis in den 2. Rang. Peter Sellars bringt Bewegung in den Schwebezustand, in dem sich alle mehr oder weniger befinden, in einer verschatteten Natur, die nur im Sommer erwacht. Gespenstig grün ausgeleuchtet ist der Gang von Pelléas und dem schon misstrauisch gewordenen Golaud durch die (angeblich) nächtliche Grottenlandschaft.
Denn schon lange trägt Mélisande nicht mehr Golauds Ehering, den sie in dieser Inszenierung mit provozierendem Leichtsinn in den Brunnen fallen lässt. Eine Frau, die diese Bindung offenbar nicht will. Das erwähnte Podest wird nun auch zum Liebeslager von Pelléas und Mélisande, ohne dass beide echt intim werden. Ein andermal scheint es das Schlafgemach in einem hohen Turm zu sein, von dem Mélisande wie einst Rapunzel ihr langes Haar zu Pelléas hinunterlässt, der sich begeistert in ihre Locken wickelt.
Imponierend auch der Bassist Franz-Josef Selig als der fast erblindete König Arkel, der aber fähig ist, Mélisande zu verstehen und allen in die Herzen zu sehen. Einer, der nach der Katastrophe dafür sorgt, dass die verwundete, nach der Geburt ihrer Tochter sterbende Mélisande ihre Ruhe findet. Zuvor aber der Showdown, die sich offenbarende Liebe zwischen den beiden jungen Menschen, denen Golaud schon rachsüchtig auflauert. „Alle Sterne stürzen nieder“, singt Pelléas in diesem 4. Akt. „Auf dich und mich!“ antwortet Mélisande. Zwei, die nach dem Eingeständnis ihrer gegenseitigen Liebe gefasst das schlimme Ende akzeptieren und sich bis zum Todesstoß küssen.
Das ist große, ergreifende Oper und braucht wie hier nur zwei Menschen, die das glaubwürdig gestalten wie Magdalena Kožená und Christian Gerhaher. Ebenso großartig aber auch Gerald Finley, der mit Stimme und Körpersprache die Reue und Verzweiflung Golauds offenbart, eines Mannes, der diese Fremde zu sehr und vergeblich geliebt hat.
Als herbei gerufener Arzt agiert Jörg Schneider (Bass), als im Haus lebende Geneviève (Bernarda Fink, Alt). Sie hält zuletzt das Baby im Arm. „Das Kind muss leben, jetzt an ihrer Stelle. Jetzt geht es um die arme Kleine,“ entscheidet gefasst der alte König.
Das Publikum entscheidet sich, sichtlich gepackt, für heftigen Beifall, auch für den Solisten des Tölzer Knabenchors als Golauds Sohn Yniold und Sascha Glintenkamp (Bassbariton) als vorbeiziehender Schäfer. Bejubelt werden auch Simon Rattle, der manchmal recht kräftig zugepackt hat, die Berliner Philharmoniker, Mitglieder vom Rundfunkchor Berlin und natürlich Peter Sellars.
Ursula Wiegand
Die weiteren Termine am 17., 19.und 20. Dezember sind schon lange ausverkauft.