Musikfest Berlin/ Philharmonie: „L’ORFEO“ von Claudio Monteverdi, halbszenisch, 02.09.2017
Liebe und Lebensfreude sind dem jungen Mann ins Gesicht geschrieben, der den glücklichsten Tag seines Lebens bejubelt. Endlich hat die von ihm umworbene Schöne „Ja“ gesagt. Die Hirten im Hintergrund und die Nymphen jubeln gemeinsam mit diesem glückstrahlenden Halbgott Orfeo. All’ sein Kummer über das lange Warten ist verflogen, noch an diesem Tag wird er die liebreizende Euridice heiraten.
Es geht hier, leicht zu erraten, um die weltbekannte „Urvertonung“ dieser griechischen Sage durch Claudio Monteverdi (1573-1630), der als Vater der Oper gilt. Sein 450. Geburtstag, der vielerorts gefeiert wird, gehört zu den Hauptereignissen des Musikjahres 2017.
„L’Orfeo“ – geleitet von John Eliot Gardiner. Copyright: Carolina Redondo
Monteverdis expressive Musik hat Sir John Eliot Gardiner, der in der Philharmonie diesen L’Orfeo präsentiert, von klein auf geprägt. Als Siebenjährigen hatte ihn seine Mutter zu einem Workshop über Monteverdi-Madrigale mitgenommen. Eine Initialzündung. Seither hat ihn Monteverdi sein ganzes Leben lang begleitet.
Aus gutem Grund nannte Gardiner den Chor, den er schon als 18jähriger Student gründete, Monteverdi Choir. Der und Gardiners English Baroque Soloists, beide Ausnahme-Ensembles an Klang und Präzision, gestalten diesen Abend und bieten den großartigen Sängerinnen und Sängern einen Rahmen voller Leuchtkraft.
Und das nicht erst in Berlin. Ähnlich wie im Jahr 2000, als Gardiner bei seiner Bach-Pilgerreise dessen sämtliche Kantaten landauf, landab aufführte, tourt er nun seit April mit Monteverdis Werken durch Europa. Venedig, Cremona (Monteverdis Geburtsort), Salzburg, Edinburgh und Luzern gehörten zu den bisherigen Stationen. Wroclaw, Paris, Pisa und sogar Chicago und New York werden folgen.
Wir haben das Glück, beim Musikfest Berlin, veranstaltet von den Berliner Festspielen, die drei erhaltenen Monteverdi-Opern in Reihe zu erleben. Neben dem „L’Orfeo“ auch die ganz anders gearteten Stücke „Il ritorno d’Ulisse in patria“ (am 3.9.) und „L’incoronazione di Poppea“ (am 5.9.). Alle halbszenisch, und das passt bestens.
Denn Gardiner stellt das Hören in den Mittelpunkt, nicht das Schauen. „Mir widerstrebt es, die Guckkastenbühne als einzig möglichen Ort für eine Opernaufführung anzusehen. Dieser Rahmen ist vorbelastete und unterstützt bei einem Teil des Publikums das Vorurteil, dass das Auge wichtiger sei als das Ohr…“ (sic!).
Bei diesen Stücken aus dem 17. Jahrhundert handle es sich um Kammernopern, „für die man weder einen Orchestergraben noch eine konventionelle Bühne braucht.“ So zu lesen in einem im Programmheft abgedruckten Interview. Sicherlich auch aus diesem Grund agiert Gardiner nicht nur als Dirigent, sondern zusammen mit Elsa Rooke auch als Regisseur. Beiden genügen ein gelegentliches Hin und Her der Interpreten und das Lichtdesign von Rick Fisher, um das Geschehen in jeder Hinsicht zu erhellen.
Krystian Adam als „Orfeo“. Copyright Carolina Redondo
Nun also zu L’Orfeo, uraufgeführt 1607 und Mantua, und dem staunenswerten Krystian Adam in der Hauptrolle. Der, ein internationaler Star auf diesem Gebiet, zieht das Publikum sofort in seinen Bann. Mit wendigem, volumenreichem Tenor, aufgefüllt durch satte Tiefen, gestaltet er total überzeugend den herben Absturz aus Glückshöhen in die allertiefste Verzweiflung und tut es auch mit jeder Faser seines Körpers.
Die Rolle der ihm schnell vom Schicksal (einem tödlichen Schlangenbiss) entrissenen Geliebten und den Prolog der La Musica singt mit klarem Sopran Hana Blažíková. Die hatte sich wg. einer plötzlichen Bronchitis ansagen lassen, doch eine Indisposition ist nicht zu hören.
Vielmehr blüht ihre Stimme auf und wechselt dann in ein wunderschönes Piano bei den (frei übersetzten) Sätzen, kein Vogel solle sich während ihres Singens in den Bäumen regen, Welle und Lufthauch sollten innehalten, wenn sie vom Sänger Orpheus berichtet, der sich mit seinen Klagen sogar die Hölle untertan machte.
Zunächst aber kommt die Messaggiera, die Botin des schlimmen Geschehens. Auf der rechten Saalseite schreitet Lucile Richardot in dunkelrotem Gewand (Kostüme: Isabella Gardiner, Patricia Hofstede) zur Bühne. Wie todunglücklich und aufgewühlt sie selbst über das tragische Geschehen ist, zeichnet ihr kräftiger Mezzo deutlich nach.
Wie viel mehr aber dieser Orfeo (nun in schwarzer Trauerkleidung) verzweifelt ist, bringt Krystian Adam in einmaliger Intensität. Seinen grenzenlosen Kummer verstehen alle, auch wenn sie nicht auf die deutschen Übertitel schauen. Doch die Hoffnung (Speranza, gesungen vom Countertenor Kangmin Justin Kim) stirbt bekanntlich zuletzt und macht auch Orfeo wieder Mut.
Den braucht er wirklich. Wie ein Donnerhall ertönt nun der Bass von Gianluca Buratto, hier zunächst tätig als Fährmann Caronte, der ihn nicht übersetzen will ins Reich der Toten. (Mit seinem Riesenorgan gestaltet er später auch Plutone, den Herrscher der Unterwelt). – „Lasst, die Ihr eintretet, alle Hoffnung fahren!“ warnt er, Dante, zitierend. Mit allerfeinsten Koloraturen (und ohne seine göttliche Leier im Arm) kann zwar Orfeo diesen Urgewaltigen nicht überreden, ihn aber einlullen.
Auf die Geister, die den Orfeo ansonsten im Hades gierig umspringen, verzichtet Gardiner. Die braucht er nicht und auch kein sonstiges Höllenspektakel, denn alles erklärt sich aus dem Fluss der Musik. Bei Monteverdi wird die Handlung noch nicht durch Rezitative unterbrochen, da drängt alles vorwärts, ist alles voller Leben. Wer bisher meinte, Frühbarock wäre steril und langweilig, wird nun bei Monteverdi eines Besseren belehrt, zumindest an diesem Ausnahme-Abend, an dem alles so hinreißend gesungen und mit relativ wenig Aufwand so eindringlich dargeboten wird.
Selbst in der Hölle findet die Liebe ihren Platz. Francesca Boncompagni als Prosperina, gerührt von Orfeos Gesang, erweicht mit ihrem zarten Sopran den Gatten Pluto, der nun Milde walten lässt. Doch die Bedingung ist bekanntlich hart: Orfeo darf sich nicht nach der geliebten Euridice umdrehen, die ihm als leiser Schatten zurück auf die Erde folgt. Hat der schlaue Pluto vielleicht einkalkuliert, dass Orfeo seinem Befehl nicht folgen würde?
Ja, er dreht sich um, und die Geliebte entschwindet auf immer und ewig. Erneut sein verzweifeltes Klagen. Krystian Adam hat dafür eine fast unendliche Ausdruckspalette. Doch sein Vater, der vom Himmel zu Hilfe eilende Gott Apollo, ruft ihn energisch zur Raison. Furio Zanasi, ein weltweit gefragter Interpret Alter Musik, macht das mit noblem Bariton.
Zu sehr, so sein Vorwurf, habe sich Orfeo am Glück berauscht, zu sehr beklage er nun sein Los. Der Vater warnt ihn vor Schimpf und Schande, wenn er sich weiterhin so gehen lässt. „Weißt du immer noch nicht, dass auf Erden keine Wonne von Dauer ist?“ Welch ein Satz legte der Librettist Alexandro Striggio d. J. dem Apollo da in den Mund!
Schnell und gerne ergreift jetzt Orfeo die gebotene Chance, mit dem göttlichen Vater in den Himmel hinaufzufahren, um, wie versprochen, in den Sternen Euridices Ebenbild zu erblicken. Ewiger Ruhm statt irdischer Trauer – Monteverdi und Striggio erweisen sich nach antikem Vorbild als Menschenkenner.
In den übrigen Partien Anna Dennis als Ninfa sowie Francisco Fernández-Rueda, Gareth Treseder, John Taylor Ward, Michał Czerniawski und Zachary Wilder als Hirten, Geister und das Echo. Eine rundum hochkarätige Rollenbesetzung in diesem „L’Orfeo“ der Sonderklasse.
Das Publikum tobt zuletzt vor Begeisterung, applaudiert auch heftig den beiden Damen, die jeweils die Geigen- und Flötensoli gespielt haben. Gardiner bedankt sich bei allen Mitwirkenden, und das haben sie auch verdient.
Ursula Wiegand