Musikfest Berlin, Accademia Nazionale di Santa Cecilia, Leitung
Daniel Harding, am 07.09.2025
Daniel Harding mit dem Orchester der Academia Nazionale di Santa Cecilia. Foto: Fabian Schellhorn
Lag es an der erwarteten Mondfinsternis, dass an jenem Abend die bisher stets voll ausgelastete Philharmonie so erstaunlich schütter besetzt war? Der Brite Daniel Harding wird ja als Dirigent in Berlin geschätzt, ist auch oft eingesprungen, wenn Not am Mann war. Oder lag es am Programm?
Offenbar hatte sich das Motto des diesjährigen Musikfestes „Musik & klangbezogene Kunstformen“ verwirklicht. Letztere schienen jedenfalls sehr zu dem italienischen Komponisten Luciano Berio, geboren 1925, zu passen. Nun, an seinem 100. Geburtstag, werden einige Werke von ihm aufgeführt.
Eigentlich wollte Berio zur See fahren, doch es kam anders. Das Komponieren von Musik sei eine lebenslange Reise, waren seine Worte. Schließlich machte er „Musik über Musik“.
Immerhin wurde er bald bekannt und erhielt von den New Yorker Philharmonikern den Auftrag, eine „Sinfonia“ zu ihrem 125-jährigen Bestehen zu komponieren. Am 18. Oktober 1969, bei den Donaueschinger Musiktagen, wurde er auf Grund dieser Sinfonia sehr gefeiert.
„Heute gilt seine Sinfonia als Meilenstein der musikalischen postseriellen Avantgarde und als Initialzündug der musikalischen Postmoderne“ ist fachwörterreich im Programmheft zu lesen. Und wie reagierte das heutige Publikum? So, wie es wohl von der Mehrheit zu erwarten war.
Mit sportlichem Schwung und strahlendem Gesicht sprang Harding auf die Bühne, auch die Instrumentalisten waren bestens gerüstet und hatten offenkundig kräftig geprobt. Zurückhaltener wirkten die 7 Sängerinnen und Sänger, „London Voices“ genannt. Vor allem die Damen säuselten durch ihre Mikrophone.
Das Orchester und auch der Brite Harding, 50 Jahre jung, legten sich jedoch ins Zeug. Er hat ja jetzt bei diesem Orchester, das die besten und bekanntesten Dirigenten geleitet haben – von Mahler über Richard Strauss, Furtwängler und Karajan bis zuletzt 18 Jahre lang Antonio Pappano, um nur einige zu nennen – das große Los gezogen. So frisch und glücklich ist er mir bei früheren Auftritten nicht aufgefallen.
Doch was sollte als Text zu hören sein? Beispielsweise die Trauer über den Mord an Martin-Luther-King. Doch das und anderes war kaum zu erkennen. Die Bravour, mit der oft gespielt wurde, deckte so manches fast zu. Daher blieb der Pausenbeifall recht mäßig, und mein Sitznachbar suchte geschwind das Weite. Wahrscheinlich können die meisten Menschen den Inhalt dieser Sinfonia erst nach mehrfachem Hören erschließen, falls sie Lust dazu haben.
Berio hat das wohl durchaus gewusst und auch Volkslieder aus verschiedenen Ländern für Mezzosopran und Orchester bearbeitet. Obwohl keine Texte im Programmheft oder im Saal zu sehen sind, ist der Inhalt dieser 11 Lieder erahnbar, egal ob sie in Italien. Frankreich, Sardinien, den USA oder gar in Azerbaidschan gesungen wurden oder vielleicht noch werden. Denn sie zeigen das wahre Leben, sei es friedliches Alltagsgeschehen oder auch Streit und Kampf. Die fabelhafte Magdalene Kozená kann das mit gelenkigen Stimme und mit passenden Gesten bestens darlegen. Danach war der Beifall kräftig.
Weniger gut gelang jedoch das durchaus bekannte „La Mer“ von Claude Debussy, ein farbreiches Werk des Impressionismus. Das konnte sich gegen die Sinfonia und die Volkslieder nicht recht behaupten. Schade, eigentlich.
Doch Daniel Harding und sein Orchester hatten wohl den Verlauf des Gesamtgeschehens geahnt und zogen einen Joker aus der Tasche, und der hieß Verdi.
Diese feurig dargebotene Zugabe stammt auch aus einer Sinfonia, aber aus „La Forza des Destino“ (Die Macht des Schicksals) von Giuseppe Verdi, und dessen Musik ist von anderer Klasse und auch beliebt und bekannt. Nun bebte der ganze Saal vor Glück, das Publikum sprang zuletzt sofort auf und bedankte sich mit „Standing Ovations“.
Ende gut, alles gut. Manch eine moderne Musik lässt sich halt nicht in alle Köpfe hineinpressen.
Ursula Wiegand