Foto: Dr. Ingobert Waltenberger
BERLIN / Philharmonie: DIE FRAU OHNE SCHATTEN – Ungekürzte konzertante Aufführung des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin unter Vladimir Jurowski zur Saisoneröffnung im Rahmen des Musikfestes Berlin, 1.9.2019
Zum 100. Geburtstag der „Frau ohne Schatten“
Uraufgeführt wurde diese schillerndste aller Strauss-Opern am 10. Oktober 1919 in Wien. Knapp 100 später hat nun der Chefdirigent des Radiosinfonieorchesters Berlin (rsb) Vladimir Jurowski die „Frau ohne Schatten“ ohne die üblichen Striche in der Berliner Philharmonie aufgeführt. Konzertant, versteht sich, wie dies schon sein Vorgänger Marek Janowski so erfolgreich mit den 10 großen Wagner-Opern samt CD-Editionen (Bestseller auf dem Klassiktonträgermarkt), aber auch etwa „Daphne“ und „Elektra“ von Richard Strauss vorexerziert hat.
Laut einem Jurowski-Video zur Aufführung (Link: https://www.youtube.com/watch?v=VpKBJYrx39c ) beträgt die reine Musikdauer 3 Stunden und 11 Minuten. Im Progammheft ist die Spieldauer mit etwas mehr Toleranz mit ca. 3 Stunden 15 Minuten angegeben. Jurowksi orientiert sich bei den Tempi nicht an der „Aufführungstradition“, sondern an den flotteren Tempi von Richard Strauss selbst. Über 130 Orchestermusiker waren aufgeboten.
Jurowski, der ab 2021,/22 die Position des Generalmisikdirektors an der Bayerischen Staatsoper in München als Nachfolger von Kirill Petrenko antreten wird, hat „Die Frau ohne Schatten“ u.a. schon an der MET New York 2013 ebenfalls mit Anne Schwanewilms, Torsten Kerl und Ildikó Komlósi (und im Concertgebouw Amsterdam) dirigiert. Also war ein eingespieltes Team am Werk, dessen Inhalt nach knackig als eine Paar-Psychoanalyse samt Selbstfindungstripp zweier Frauen mit Happy Liebes-End beschrieben werden kann. Was so trocken daherkommt, mutiert in den Händen Hugo von Hofmannsthals und Richard Strauss‘ zur wohl schillerndsten überschwänglichsten und „schönheitstrunkensten“ Opern-Partitur der Spätromantik.
Foto: Dr. Ingobert Waltenberger
Ein opulentes Hörerlebnis wollte sich aber nur partiell einstellen. Das Rundfunkorchester Berlin (rsb) und die beteiligten Chorscharen (Kinderchor der Staatsoper Unter den Linden, Rundfunkchor Berlin) waren bestens studiert. Jurowski hatte hörbar mit den einzelnen Orchestergruppen intensiv gearbeitet. Immer wieder gelangen großartige virtuose Glanznummern von Blech, Holz und Schlagzeug. Spannend, dass Jurowski ähnlich wie Petrenko jüngst bei Beethoven einzelnen Instrumenten hohe Aufmerksamkeit schenkte und die Charakteristik des erlebten Klangs dadurch filetierte, aber auch schärfte und intensivierte. Die technischen Wunder des Orchesters sind erstaunlich, von Jurowski mit knappen Gesten jedoch auch ziemlich cool auf Drill gebracht. Die Brillanz der Bläser dominierte über weite Strecken, aber den Streichern fehlte es an lichtem Glanz und jenem Flirren, das diese so schillernde Oper an der Wiener Staatsoper immer wieder zum ganz solitären Erlebnis werden lässt. Auch die beiden berühmten Soli (Violine, Cello) habe ich schon sanglicher und sinnlicher gehört.
Jurowski legt die ganze Oper als gewaltige Symphonie mit Gesangsbegleitung an. Das fasziniert besonders in den Orchesterzwischenspielen, wo Jurowski seinen exzellenten Klangkörper zu einem traumhaften Miteinander und intensiven Entladungen animiert. Das hat aber auch zur Folge, dass Jurowski als Sängerbegleiter aufgrund des eindeutigen Primats des Orchesters wohl keinen Preis einheimst. Die Dynamik einer Aufführung hat sich aus meiner Sicht nicht nur nach den Vorgaben in der Partitur zu richten, sondern ist in Balance mit einem Konzertraum und auch nach dem Mitteln der vorhandenen Solisten zu steuern.
Und genau hier liegt das Grundproblem dieser konzertanten Aufführung. Allein Ildikó Komlósi als Amme, eine Diva alten Schlags, lieferte vokale Weltklasse. Unbeeindruckt vom wildesten Orchestersturm (Abgang der Amme im 3. Akt!) überwältigt diese dramatische Mezzosopranistin nicht nur mit einer makellosen Umsetzung der ungestrichenen Rolle, sondern vermag der Figur auch mit rein vokalen Mitteln eindrücklich Profil zu verleihen. Welch famos breite Palette an Farben hören wir da, selbst die vertracktesten Sprünge und die immens hohe Lage der „bösen“ Verführerin meistert Komlósi mit einem faszinierenden Totaleinsatz. Außerdem verfügt die Ungarin über eine Riesenstimme ohne Limits, eine wahrlich rar gewordene Gabe. Dementsprechend uneingeschränkt begeistert fiel auch der Applaus bei der Soloverbeugung am Ende der Aufführung aus.
Anne Schwanewilms. Fotografin © Monika Karczmarczyk.
Die von ihr zu hütende Kaiserin war mit Anne Schwanewilms besetzt. Mit instrumental geführter, klein kalibriger Luxusstimme vermag Schwanewilms vor allem das Gläserne der Figur, das Entrückte und Scheue in vielen Abschattierungen mit beinahe liedhafter Zurückhaltung glaubhaft zu vermitteln. Auch den Monolog „Vater bist Du‘s“ trägt Schwanewilms in ätherisch schönen Kuppeltönen vor. Überall dort, wo ein lyrischer Ton gefragt ist und das Orchester die kühl schimmernde Stimme auf sanfte Streicherklänge bettet, durfte sich jeder Freund schöner Stimmen in Wonne und Glück baden. Allerdings ist der höhensichere Sopran von Schwanewilms kaum expansionsfähig. Das führt dazu, dass in orchestral dichten oder an hochdramatischen Stellen (z.B. „Zur Schwelle des Todes“), wo voller Einsatz und das gewisse Mehr zu mobilisieren wäre, Ökonomie statt Opulenz herrscht. Bei den gesprochenen melodramatischen Stellen im 3. Akt ist auch wegen der Wucht des von Jurowskis ungebremsten Orchesters der Text kaum verständlich.
Torsten Kerl forciert mit nasaler Tongebung in den Monologen des Kaisers im ersten und dritten Akt. Die von der Tessitura her so gefürchtete Partie bewältigt er mit hoher Anstrengung ganz respektabel, doch muss das dem Operngänger genügen?
Ricarda Merbeth hat mit ihrem technisch exzellent geführten, jedoch monochrom klingenden Sopran viele Partien im jugendlich-dramatischen und dramatischen Sopranfach gesungen. Als Färberin bereiten ihr die dramatischen Ausbrüche in der hohen und höchsten Lage keinerlei Schwierigkeiten, allerdings fehlen Merbeth in der mittleren und tiefen Lage Substanz und Strahlkraft. Mangels Modulation in den Stimmfarben bleibt bei aller Sympathie auch die Figur vokal flach. Dass der existenzielle Konflikt mit dem Färber so lahm ausfällt, liegt aber auch an Thomas J. Mayer, der sich bei diesem biederen Handwerker Barak mit nobel balsamischem, bisweilen salonhaftem Wohlklang begnügt. Wo bleiben da die Erdtöne, das Kreatürlich-Bodenständige der Figur, die von seiner Frau nichts anderes verlangt als eine Gebärmaschine für zu stopfende Mäuler zu sein?
Der Rest der Besetzung mit vielen Leihgaben aus dem Ensemble der Komischen Oper Berlin birgt Gediegenheit, so manche Freude und manch Ärgernis. Der japanische Bassist Yasushi Hirano als Geisterbote darf neben Komlósi als zweites uneingeschränktes vokales Atout der Vorstellung gelten. Mit seinem kernigen, rund alle Lagen ausschöpfenden Bass empfiehlt sich das Ensemblemitglied der Volksoper Wien für größere Aufgaben. Der Countertenor Andrey Nemzer als Hüter der Schwelle des Tempels (Wer hatte die Idee, diese hoch liegende Rolle mit einem überforderten Counter zu besetzen?) als auch Michael Pflumm als Erscheinung des Jünglings liefern lediglich schrille bzw. hart scharfe Töne. Auch Nadezhda Gulitskaya als Stimme eines Falken/Dienerin enttäuscht durch unstete Stimmführung. Die Ensemblemitglieder der Komischen Oper Berlin (wo Jurowski mit den „Bassariden“ von Henze die Einstandspremiere der Saison 2019/2020 dirigieren wird) Karolina Gumos (Stimme von oben), Christoph Späth (Der Bucklige), Tom Erik Lie (Der Einäugige) und Jens Larsen (Der Einarmige) dürfen in diesen kleinen Rollen als – wenn auch unnötige – Luxusbesetzung gelten. Die Wächterstimmen von Philipp Alexander, Artyom Wasnetzov und Christian Oldenburg verbreiten sonor ihre humane Botschaft.
Der Rundfunkchor Berlin ist besser als die meisten Opernchöre dieser Welt und sorgt an verschiedenen Stellen des Saales platziert für musikalische Höhepunkte des Abends.
Hinweise:
1) Das Konzert wird am 7.9. um 19h05 europaweit übertragen. In Berlin auf UKW 89,6 MHz;: Kabel 97,55; Digitalradio (DAB); Satellit; online und per App.
2) Eine weitere konzertante Aufführung in derselben Besetzung wird es am 4.9. in Bukarest in der Sala Palatului anlässlich des George-Enescu-Festivals geben, wo Vladimir Jurowski seit 2015 als künstlerischer Leiter fungiert.
Besetzung komplett
Torsten Kerl – Tenor (Der Kaiser)
Anne Schwanewilms – Sopran (Die Kaiserin)
Ildikó Komlósi – Mezzosopran (Die Amme)
Andrey Nemzer – Countertenor (Hüter der Schwelle des Tempels)
Michael Pflumm – Tenor (Erscheinung eines Jünglings)
Nadezhda Gulitskaya – Sopran (Stimme eines Falken, Dienerin, Kinderstimme, Ungeborene)
Karolina Gumos – Alt (Stimme von oben)
Thomas J. Mayer – Bassbariton (Barak, der Färber)
Ricarda Merbeth – Sopran (Die Färberin)
Christoph Späth – Tenor (Der Bucklige, Bruder Baraks)
Tom Erik Lie – Bariton (Der Einäugige, Bruder Baraks)
Jens Larsen – Bass (Der Einarmige, Bruder Baraks)
Christian Oldenburg – Bass (Wächterstimme)
Philipp Alexander Mehr – Bass (Wächterstimme)
Artyom Wasnetzov – Bass (Wächterstimme)
Sophie Klußmann – Sopran (Dienerin, Kinderstimme, Ungeborene)
Verena Usemann – Sopran (Dienerin, Kinderstimme, Ungeborene)
Jennifer Gleinig – Sopran (Kinderstimme, Ungeborene)
Alice Lackner – Sopran (Kinderstimme, Ungeborene)
Vizma Zvaigzne – Sopran (Solostimme)
Rundfunkchor Berlin
Benjamin Goodson Choreinstudierung
Kinderchor der Staatsoper Unter den Linden Berlin
Vinzenz Weissenburger Choreinstudierung
Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin
Dr. Ingobert Waltenberger