BERLIN / Philharmonie – Kirill Petrenko dirigiert Alban Berg und Ludwig van Beethoven – Umjubelter Einstand des neuen Chefdirigenten der Berliner Philharmoniker – Bericht aus dem CineStar am Sonycenter, Potsdamer Platz, Berlin, 23.8.2019
Der offizielle Amtsantritt des schon 2015 zum Nachfolger von Sir Simon Rattle gewählten russischen Chefdirigenten der Berliner Philharmoniker Kirill Petrenko erfolgte am 23. August mit großer Konzentration des Orchesters, medialem Glanz und Gloria und am Schluss Standing Ovations. Gespielt wurden Alban Bergs „Symphonische Stücke aus der Oper Lulu“ für Sopran und Orchester und die Neunte Symphonie Ludwig van Beethovens. Das offizielle Saison-Eröffnungskonzert in der Philharmonie wurde allein in Berlin in neun Kinos, in Deutschland insgesamt in 109 Säle übertragen. Das Konzert wurde auch auf RBB Kulturradio sowie online in der Digital Concert Hall des Orchesters gebracht.
Vor dem Hintergrund des kommenden Jubiläums 30 Jahre Mauerfall am 9.11.2019 und des 2020 fälligen 250. Geburtstages von Ludwig van Beethoven erfolgte die Programmwahl. Gleichzeitig soll die Neunte Beethoven als eine musikalische Hommage an die vorangegangenen Chefdirigenten der Berliner Philharmoniker gesehen werden. Angefangen mit Hans von Bülow, der das Werk in einem Konzert gleich zweimal hintereinander darbot, über Arthur Nikisch, Wilhelm Furtwängler und Herbert von Karajan, der die Symphonie u. a. bei der Eröffnung der neuerbauten Philharmonie 1963 dirigierte, bis hin zu Claudio Abbado und Sir Simon Rattle hat jeder der Dirigenten mit eigenen Interpretationen der Neunten Symphonie Spuren hinterlassen.
Wir erinnern uns auch an ein besonderes Ereignis zum Mauerfall: Am 1. Weihnachtstag 1989 hat Leonard Bernstein im Ost-Berliner Schauspielhaus am Gendarmenmarkt (heute Konzerthaus) ebenfalls die 9. Symphonie als „Ode an die Freiheit“ (das Wort Freude wurde auf Wunsch des Maestro kurzerhand durch das Wort Freiheit ersetzt) aufgeführt. Und das symbolträchtig als multinationales Ereignis mit Musikern des Sinfonie-Orchesters des Bayerischen Rundfunks, der Staatskapelle Dresden, des russischen Kirov Theaters, des LSO, des New York Philharmonic und des Orchestre de Paris. Der Chor rekrutierte sich damals aus Mitgliedern des Chors des Bayerischen Rundfunks und Rundfunkchors Berlin (DDR).
Die Bernsteinsche musikalische Weltumarmung (nachzuhören als CD der Deutschen Grammophon) lässt sich natürlich nicht wiederholen. Nichtsdestotrotz gehen der leidenschaftlich alle Tiefen der Musik auslotende, aus Omsk stammende Kirill Petrenko und seine Berliner Philharmoniker ihre Partnerschaft enthusiastisch und hohen Ansprüchen an.
Bei Alban Berg vor der Pause war noch eine gewisse Nervosität des Orchesters spürbar. Die fünf Symphonischen Stücke aus „Lulu“, ein spätromantisch dekadent-dodekaphon irrlichterndes Werk, bezeugten schon die immense Qualität der Berliner Philharmoniker an diesem besonderen Abend und ihren Willen, alles zu geben. Die vielen instrumentalen Lichter wollten sich jedoch in den ersten drei Teilen noch nicht zu einem Strahl bündeln. Erst beim ‚Adagio‘ mit Lulus zwölftönigem Todesakkord und dem Liebestod der Geschwitz war jene Spannung und innere Entfesselung zu spüren, die die Wiedergabe der Neunten Symphonie von Ludwig von Beethoven zum Ereignis werden ließ.
Kirill Petrenko hat für jeden Satz der Beethoven-Symphonie ein schlüssiges Konzept. Abgesehen von einer unglaublichen orchestralen Perfektion faszinierte Petrenko mit einem apokalyptisch dämonischen ersten Satz. Im Scherzo überuferte das wilde Plappern der Instrumente wie ein ausgelassener Heuschreckenschwarm die große Erzählung vom Umbruch der Zeiten, während im Adagio die Themen wunderbar leicht und luftig ineinander verwoben zu schweben schienen. Beim Finale konnte der charismatische Dirigent mit dem wohl charmantesten und verschmitztesten Lächeln der Welt eine Apotheose beschwören, samt dem Orchester, dem Chor und den Solisten abheben zu jener Utopie und Sehnsucht nach einer gloriosen Zukunft einer Menschheit des Zusammenhalts und der Solidarität. Gigantisch schön und intim bewegend zugleich.
Das Konzert markierte zudem Marlis Petersens ersten Auftritt als „Artist in Residence“ der Philharmonie 2019/2020. Sie sang das Solo in Beethovens Neunter mit unglaublichem Jubel und leuchtenden Höhen und in Alban Bergs Symphonischen Stücken das Lied der Lulu aus der ersten Szene des zweiten Aktes in gewohnter Intensität. Der Rest des Solistenquartetts war mit Elisabeth Kulman, dem heldischen Benjamin Bruns und dem flackernden Bass Kwangchul Youn zumindest prominent besetzt. Der Rundfunkchor Berlin (Einstudierung Gijs Leenaars) sang prächtig und (Gott sei Dank) ohne aktive Beteiligung des Publikums, wie das beim Konzert des European Union Youth Orchestra unter der Leitung des russischen Chefdirigenten Vasily Petrenko im Rahmen des Young Euro Classic Festivals am 4. August vorexerziert wurde.
Am Ende des Konzerts Jubel und Standing Ovations. Ein überglücklicher Dirigent und Gentleman gibt seinen Blumenstrauss an das Orchester weiter. Der Tagesspiegel hielt dazu schon vorher fest: „Noch omnipräsenter, noch multimedialer und niedrigschwellig zugänglicher ist kein Philharmoniker-Chefdirigent in seine Ära gestartet. Ganz nach dem Motto aus der „Ode an die Freude“: Seid umschlungen, Millionen!“
Hinweis: Am Samstag wird dasselbe Programm vor dem Brandenburger Tor als Gratis-Freiluftkonzert für bis zu 32.000 Zuseher serviert (ab 20h live im RBB Fernsehen zu verfolgen). Am Sonntag, dem 25.8., 20h30 Uhr wird das Konzert im Großen Festspielhaus, Salzburg, wiederholt.
Dr. Ingobert Waltenberger