BERLIN / Philharmonie Kammermusiksaal „SCHLAFES BRUDER“: RAPHAEL PICHON und PYGMALION; 15.10.2025
Leben und Tod: Vergänglichkeit und Auferstehung in der geistlichen Musik des Barock
Foto: Dr. Ingobert Waltenberger
Vom 18. bis zum 20. Dezember dieses Jahres wird Raphaël Pichon sein Debüt bei den Berliner Philharmonikern mit J. S. Bachs h-Moll Messe absolvieren. Man darf gespannt sein! Denn was der französische Musiker mit dem von ihm 2006 gegründeten Vokal- und Instrumentalensemble Pygmalion erreicht hat, ist nichts weniger als gigantisch. Genauso versessen auf Lebendigkeit im historisch Erforschten und Forschen, die Erschließung genuin erfühlter Klangwelten, transparenter, fein durchhörter Klangmalerei und Zusammenstellung interessanter Programme wie einstens Nikolaus Harnoncourt, ist Raphaël Pichon drauf und dran, der Musikwelt in Sachen Alter Musik bis Mozart und weiter in die Romantik hinein (Brahms) gehörig den Kopf zu verdrehen. Als kleines Zeichen dafür ist er in der Saison 2025/2026 eingeladen, erstmals auch das Royal Concertgebouw Orchestra Amsterdam zu dirigieren.
In Sache Oper sorgte der einstige Countertenor, Geiger und Pianist Raphaël Pichon schon 2023 bei seinem Operndebüt bei den Salzburger Festspielen mit Mozarts „Le nozze di Figaro“ (zugleich Debüt mit den Wiener Philharmonikern) für Furore.
Dass der schlaksige, am 17. Oktober seinen 41.Geburtstag feiernde Dirigent ein besonderes Händchen für straffe Rhythmen und exquisite Farbabmischungen, das Verschmelzen von Instrumentalem und Vokalem, die schonungslose Expressivität barocker Be- und Empfindlichkeiten sowie emotionale Wahrhaftigkeit, schlicht und einfach eine bewegende „Klangrede“ hat, war gestern wieder aufs Schönste und Ergreifendste zu konstatieren.
Pichon und die Seinen widmeten sich nämlich in der Berliner Philharmonie auf Einladung der Philharmoniker in einem 90 Minuten kurzen, pausenlosen Konzert 14 Kompositionen des 17. und 18. Jahrhunderts. „Welt, gute Nacht“ heißt es zu Ende jeder Strophe der Motette “Es ist nun aus mit meinem Leben“ von Johann Christoph Bach.
Den großteils wenig bekannten Motetten und Kantaten verleiht Pichon in all ihrer Intimität (Pichon: Man sollte „beim Hören das Gefühl haben, dass der Komponist uns durch die Interpreten ins Ohr flüstert.“), den kühnen harmonischen Reibungen und ihrer atmosphärisch kontrastierenden Gestik wirksam Gestalt und Kontur. Nicht zuletzt zeitgeschichtlich und religionsphilosophisch von den Schrecken des Dreißigjährigen Krieges beeinflusst, drehen sich die Texte und Kompositionen um die Themen Vergänglichkeit, Buße, Trost, Tod und Erlösung.
Bewundernswert wurde in all diesen Werke vorgeführt, wie die immer gleichen Sujets durch die Variabilität und Kunstfertigkeit in Besetzung, Instrumentierung und im von Echos durchdrungenem Dialogisieren von Stimmgruppen bzw. der Trias Chor-Solisten-Orchester Abwechslung und Spannung erfahren. Georg Daniel Speer, Dietrich Buxtehude, Johann Michael Bach, Philipp Heinrich Erlebach, Melchior Franck, Nicolaus Bruhns, Heinrich Schütz, Johann Christoph Bach, Hans Leo Hassler und Johann Sebastian Bach („Nach dir, Herr, verlanget mich“ BWV 150) sind es, die mit ihren ewig gültigen Botschaften und der wundersam kontrapunktischen Meisterschaft uns bis heute klangsinnlich betören und in andere Sphären katapultieren können.
Damit diese seelischen „Raum-Zeitmaschinen“ reibungslos funktionieren, bedarf es erstklassiger Interpreten. Unter „Pygmalion“ und seinem zehnköpfigen Vokalensemble sind nämlich Starsolisten vereint, von denen jede und jeder Konzert- und Opernerfahrung haben und in ihrem jeweiligen Fach zu den Weltbesten zählen.
Als da wären die schottisch maltesische Sopranistin Carine Tinney (Signature Rollen: Pamina, Cendrillon), oder Maïlys De Villoutreys, die in Sopranrollen der Opern Monteverdis, Rameaus bis zu Gluck reüssiert. Die „Alte Musik Diva“ und Kontraaltistin Lucile Richardot (auf den Opernbühnen ist sie gerade dabei, sich das große romantische Fach bis Ponchielli zu erobern) und der franco-britische Countertenor William Shelton (z.B. Arsamene in Händels „Serse“) gehören sowieso zu den aufregendsten Stimmen der Jetztzeit. Der amerikanische Tenor Zachary Wilder ergriff das Publikum mit dem innig vorgetragenen melancholischen Lied „Himmel du weißt meine Plagen“ von Erlebach mit ebenmäßiger Projektion, unglaublicher Akkuratesse und schwebend dahingepinselten Verzierungen.
Sein Stimmfachkollege Antonin Rondepierre – auch er mit lupenreiner Intonation und engelhaftem Timbre – tritt sowieso über den Planeten verstreut in Opern von Händel, Rameau, Charpentier oder Destouches auf. Drei profunde Bässe (Tomás Král, Christian Immler, Renaud Brés), allesamt hochmusikalisch und Koryphäen im Allerheiligsten der Alten Musik ergänzten das Vokalensemble, das trotz der charakterstarken und fülligen Stimmen zu seltener Harmonie und klanglicher Einigkeit fand.
Der nicht nur in unseren Landen bekannte und beliebte Christian Immler (der von Bach, Weber bis Wagner, Lied, Oratorium und Oper alles kann) hatte seinen stimmmächtigen und berührenden Auftritt im Bußpsalm „De Profundis clamavi“ (Aus der Tiefe rufe ich) für Bass, 2 Violinen und Basso continuo von Nicolaus Bruhns.
Musikalisch konnte Raphaël Pichon, der sich seinen Musikern durch zackige Rhythmik aber auch eine fluide Zeichengebung und Körpersprache vermittelte (auf mich machte er den Eindruck einer fest im Boden verankerten Weide, die sich in den Wogen und Stürmen der Musik mit großer Elastizität bewegte) auf sein fabelhaftes Pygmalion-Instrumentalensemble mit Streichern, Flöte, Harfe, Theorbe, Orgelpositiv und Cembalo zählen. Die untermauerten ihre Bravour und Klangraffinesse besonders bei drei kurzen Instrumentalnummern – Sinfonia der Kantate „Auf, lasst uns den Herren loben“ (Johann Michael Bach), Sinfonia der Kantate „Ach, wie sehnlich wart ich in der Zeit“ und die Sinfonia des geistlichen Konzerts „Erbarm dich mein, o Herre Gott“ von Heinrich Schütz.
Fazit: Ein seltener Abend an technisch höchster Meisterschaft, schwindelerregender (vokaler) Intensität und spiritueller Tiefe. Kein Wunder, dass Pichon – wie ebenfalls gestern verlautbart wurde – für seine zweite Aufnahme von Bachs h-Moll Messe (harmonia mundi) als „Recording of the Year“ mit dem Grammophon Award 2025 ausgezeichnet wurde. Wir gratulieren herzlich!
Link zur Bekanntgabe und Begründung
Dr. Ingobert Waltenberger
Foto Schlussapplaus: Dr. Ingobert Waltenberger