BERLIN / PHILHARMONIE: DEBÜT IM DEUTSCHLANDFUNK KULTUR – Oscar Jockel und das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin (DSO) mit Werken von Jockel, Renié, Rota und Mendelssohn-Bartholdy; 5.12.
Oscar Jockel (Dirigent und Komponist), Tjasha Gafner (Harfe) und Kris Garfitt (Posaune) krönen den DSO-Abend mit Können, Bravour und Spielwitz
Copyright Stefan Stahnke
Drei Neulinge auf dem Konzertrund der Berliner Philharmonie, drei Debüts in der Zusammenarbeit mit dem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin (DSO), viele junge Gesichter im Publikum und trotz einiger unbesetzter Reihen eine tolle Stimmung im Saal.
Das erste Konzert aus der wichtigen, weil junge Spitzentalente vor den Vorhang bittenden Reihe Debüt im Deutschlandfunk Kultur erwies sich als programmatisch abwechslungsreich und bot die Gelegenheit, etwa das Harfenkonzert der damals 26-jährigen französischen Komponisten und Harfenistin Henriette Renié oder das exzentrisch liebenswerte Posaunenkonzert (1966) des durch seine Filmmusiken (etwa Satyricon, Pate I und II, Tod auf dem Nil) zu Ruhm gelangten Nino Rota kennenzulernen.
Der Komponist und Dirigent Oscar Jockel gab an dem Abend seinen Einstand mit einer eigenen Komposition, und zwar des beim Beethovenfest 2021 uraufgeführten Stücks „asche ist weiß“. Da es in der Philharmonie nicht möglich ist, das Orchester – wie ursprünglich vorgesehen – rund um das Publikum zu platzieren, erstellte er mit der ‚Berliner Fassung‘ so etwas wie eine geeignete Version für den klassischen Konzertbetrieb. Das groß besetzte Orchester musste allerdings auf seinen Einsatz warten, denn Jockel entwickelt sein Konzert konzeptuell aus der absoluten Stille und lässt es auch so enden. Musikalisch habe ich eine ähnliche Erfahrung nur beim Parsifal in Bayreuth gemacht, wiewohl Jockel klanglich vielmehr an den Beginn des sphärischen Flirrens der Tondichtung ‚Also sprach Zarathustra‘ von Richard Strauss anknüpft. Das in einem Riesen-Crescendo chromatisch sich in weiten Bewegungen kaleidoskopartig stets wie in Zeitlupe ändernde Klangbild unter Verwendung vielfach geteilter Streicher, einer Bläsergruppe, Schlagzeug, Pauke und Orgel macht durchaus Effekt.
Beim Hören merkt man den gelernten Sänger im chorischen Wirken des Instrumentengruppen, denn Jockel begann seine musikalische Ausbildung bei den Regensburger Domspatzen. Und natürlich kommt der Naturliebhaber zu Ton, der sich zum Schreiben gerne in die österreichischen Berge zurückzieht, um sich in der Höhenluft von Stille, Wald, Felsen und Kargheit, wohl auch vom klaren Sternenhimmel inspirieren zu lassen. Kürzlich hatte ich das Vergnügen, auf über 2000 Höhenmeter mit einem großen Teleskop in den Bergen Omans Sternenbilder zu beobachten. Das handwerklich ausgetüftelte, scheinbar statische, in Wirklichkeit höchst lebendige kosmische Rauschen, das An- und Abschwellen der Musik von Jockel hat da sofort intensive Assoziationen zu meinem Erleben hervorgerufen. Mal blitzt da ein dezent strahlender Signalton heraus, dann dort wieder ein anderer, bevor Trommeln den „vollen Klangraum“ ankündigen. Man könnte diesen Kosmos als meditativ bezeichnen, die nicht unstrenge Logik der Architektur des Stücks erinnern zudem an optisch komplexe, aus sich heraus leuchtende Grafiken.
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Dann war die Schweizer Harfenistin Tjasha Gafner dran, die sich an dem fast halbstündigen Harfenkonzert von Henriette Renié aus dem Jahr 1901 versuchte. Außer einem melancholisch verträumten Adagio ist an der romantisch, gedämpft schwärmerischen Musik nicht viel Haftenbleibendes dran. Sie plätschert salonhaft gepflegt-plaudernd, aber wenig konturiert, dahin. Dazu kommt, dass Gafner, eine technisch ganz vorzügliche Solistin, dynamisch Extreme ausreizte, ohne gemeinsam mit dem Dirigenten ausreichend auf die akustischen Gegebenheiten und die Balance zwischen Orchester und Soloinstrument geachtet zu haben. So gingen ihre kunstvollen Pianissimi bei dem groß besetzten Orchester besonders im ersten Satz, wo es auch den einen oder anderen Wackelkontakt zum Orchester gab, im Saal beinahe unter. Bei der Radioübertragung, wo die Mikros auch direkt vor der Harfenistin aufgestellt waren, kann sich hoffentlich ein anderer Eindruck ergeben. Schwamm drüber. Bei ihrer zurecht bejubelten Solozugabe „Harpicide at midnight“ von Pearl Chertok, konnte die sympathische Künstlerin – das Instrument teils wie eine Gitarre nutzend – ihre Weltklasse unter Beweis stellen.
Die größte Überraschung des Abends bot mir persönlich das Posaunenkonzert von Nino Rota. Es war sicher mein erstes Posaunenkonzert live. Die fulminante Komposition hat von der ersten Minute an vielen im Publikum ein Lächeln auf die Lippen gezaubert. Als Gegenprogramm zur zarten Harfe ließ der britische Musiker Kris Garfitt, Solo-Posaunist im WDR-Sinfonieorchester, keinen Zweifel an der Dominanz und funkelnden Virtuosität seines Vortrags. Der „italienische Gershwin“ und Casella-Schüler Rota hat ein unterhaltsames dreisätziges Konzert geschrieben. Ob vollmundige Fanfaren, perlende Skalen oder wüste Intervallsprünge, Garfitt begeisterte auf ganzer Linie, der Musik augenzwinkernd bis kokett auf den Leib rückend, frech loströtend in festlich lautmalenden Hochseilakten.
Als Zugabe lauschte das Publikum der jazzigen/latin-music „Improvisation No. 1“ von Enrique Crespo. Die kleinen Generalpausen des in vielen internationalen Wettbewerben als Pflichtstück der zeitgenössischen Musik vorgeschriebenen Solos bewirkten, dass niemand genau wusste, wann das humorvolle Hin und Her endete. Auf jeden Fall erwies sich diese Improvisation Nummer eins, der nach den Worten des Solisten keine zweite ihres Schöpfers Crespo folgte, als Publikumshit.
Bleiben wir in Italien. Felix Mendelssohn-Bartholdy bereiste 1830/31, wie sich das bildungsbürgerlich im 19. Jahrhundert so gehörte, zur Erbauung und Inspiration Venedig, Genua, Mailand, Florenz, Rom, Neapel samt Pompeji. Als kundiger Reiseführer diente ihm Goethes „Italienische Reise“. Das DSO feierte gestern seinen großen Auftritt als erstklassiger Klangkörper mit einer wahrlich feenhaft-quirligen, höchst präzisen Wiedergabe in den kontrapunktischen Feinheiten dieser auf italienischen Reminiszenzen beruhenden Vierten Symphonie in A-Dur, Op. 90 des Leipziger Meisters. Da öffneten sich imaginäre Eindrücke von mediterraner Sonne und duftenden Zitrusplantagen im Großen Saal der Berliner Philharmonie. Ich finde, hier lief Oscar Jockel mit zackigen, motorisch uhrwerksartig und dennoch duftigen Bewegungen, die an Ozawa erinnerten, zu großer Form auf. Temperamentvoll stellte er das Tänzerische und Beschwingte der Musik in den Vordergrund. Das Orchester folgte ihm, den Minen der Musikerinnen und Musikern zufolge mit Freude, Konzentration und unbändiger Spiellust.
Hinweis: Das Konzert wird am 13.12. ab 20H03 im Deutschlandfunk Kultur übertragen; anschließend zum Nachhören im DSO PLAYER (dso-player.de)
Biografisches zu den Debüts
Oscar Jockel assistierte als Stipendiat der Siemens Conductors Scholarship an der Karajan-Akademie bei den Berliner Philharmonikern und war in der Philharmonie de Paris Dirigierassistent beim Ensemble intercontemporain und dessen Leiter Matthias Pintscher. Weitere Erfahrungen sammelte er als Conducting Fellow beim Tanglewood Music Center des Boston Symphony Orchestra und beim Aspen Music Festival. Jockel gastiert mittlerweile bei zahlreichen Orchestern, darunter das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, die Sächsische Staatskapelle Dresden und die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen. Jockel wurde für sein Schaffen im Rahmen der Salzburger Osterfestspiele 2023 mit dem Herbert-von-Karajan-Preis ausgezeichnet.
Die in der Schweiz geborene Harfenistin Tjasha Gafner gewann 2023 den Ersten Preis und den Publikumspreis beim Internationalen Musikwettbewerb der ARD in München. Nach ihren Studien in Lausanne und an der New Yorker Juilliard School entfaltet Gafner eine internationale Konzerttätigkeit mit Solo-Recitals, Kammermusik und als Solistin bei verschiedenen Orchestern. Neben eigenen Transkriptionen zur Erweiterung des Harfenrepertoires haben ihr Komponisten wie Constantin Macherel, Ziyi Tao und Jake Safirstein neue Werke gewidmet.
Kris Garfitt, Solo-Posaunist im WDR-Sinfonieorchester, war Erster Preisträger beim Internationalen Musikwettbewerb der ARD 2022, Goldmedaillengewinner der Royal Over-Seas League Annual Music Competition sowie ein „Courtois Performing Artist“. Nach Studien in Freiburg und Saarbrücken schloss Garfitt sein Studium an der Guildhall School of Music & Drama in London mit Auszeichnung ab. Als Solo-Posaunist ebenso wie als Konzertsolist sammelte Garfitt bei vielen internationalen Spitzenorchestern Erfahrungen. Mit seiner koreanischen Duo-Partnerin Seri Dan widmet sich Garfitt in Rezitalen dem breiten Repertoire für Posaune und Klavier vom Barock bis in die Moderne.
Dr. Ingobert Waltenberger