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BERLIN/ Passionskirche Berlin Kreuzberg: „MINSTREL`S ERA“ verband alte osmanische Musik mit dem Jazz

18.11.2019 | Konzert/Liederabende


Atilla Aldemir. Foto: Stefan Pieper

Passionskirche Berlin Kreuzberg: „Minstrel`s Era“ verband alte osmanische Musik mit dem Jazz (17.11.2019)

Die Konzertserie „Minstrel’s Era“ verschreibt sich in Halle, Leipzig, Dessau und Berlin der osmanisch-byzantinischen Musiktradition – und schlug bei seinem Abschlusskonzert in der Kreuzberger Passionskirche eine tief berührende Brücke zur musikalischen Gegenwart. Dabei traf Derya Türkan, der führende Kemençe-Virtuose der Türkei auf den Geiger und Bratschisten Atilla Aldemir. Komplettiert wurde die Besetzung durch den niederländischen Bassisten Eric Van Der Westen und den türkischen Komponisten und Pianisten Çağrı Sertel. Ermöglicht wurde diese Begegnung nicht zuletzt durch das Yunus Emre Institut.

Wer politisch verbindliche Landesgrenzen oder fanatisch verteidigte kulturelle Barrieren mit dem wunderbar fließenden Charakter von Einfluss-Sphären auf der musikalischen Landkarte vergleicht, dem drängt sich schon ein manchmal absurder Widerspruch auf: Orient? Okzident? Musik aus christlicher, islamischer, jüdischer Tradition? Was überliefert ist, was klingt und berührt und aus tiefer Seele kommt, scheint sich herzlich wenig um kleingeistige Eingrenzungen zu kümmern.


Derya Türkan. Foto: Stefan Pieper

Die Passionskirche in Berlin-Kreuzberg bot an diesem Abend eine Zuflucht, um in eine solche Welt einzutauchen. Oder wollen wir lieber sagen: In eine hörere Sphäre abzuheben? Denn, wenn Derya Türkan die Saiten seines Kemençe, die alte türkische Kastenhalslaute in Schwingung versetzt, evoziert dieser singende, manchmal klagende, seidig schimmernde, zugleich bohrend präsente Ton mannigfaltige Schwebezustände. Sie geraten in staunenswerten Dialog mit seinem Partner auf einem eher „okzidentalen“ Streichinstrument: Ebenfalls aus der Türkei stammt Attila Aldemir, der – von der Violine kommend – vor ein paar Jahren die Viola für sich entdeckte. Der Grund: Die Mittellage dieses Instruments schien Attila Aldemir geeigneter, dem „Zentrum“ der Musik, also der wahren, tiefen Emotion nahe zu kommen.

Die Stücke, die an diesem Abend aus dem uralten, viel mehr von osteuropäischen und jüdischen als von arabischen Elementen genährten Tonsystem hervorgeht, lässt mit geschmeidiger Intensität vier Instrumente zusammen wachsen. Über ornamenthafte Muster erhebt das Kemence seinen Klage- und manchmal Jubelgesang. Mit hellwacher Neugier „antwortet“ Attila Aldemir auf der Viola darauf – richtig spannend wird es hier erst jenseits rigide festgelegter Tonhöhen. Das Bindeglied in der Passionskirche ist der Jazz – bekanntlich eine Kulturpraxis von Toleranz, die beständig neue, scheinbar „fremde“ Einflüsse integrieren muss, um frisch zu bleiben!

Eric van der Westens zupackend-unaufdringliches Spiel auf dem Kontrabass wirkt wie ein in sich ruhendes Fundament, bei dem tiefe Töne den Hintergrund schwärzen für die ganze Leuchtpracht des Streicherklangs und wo ein unterschwellig treibender Groove Treibmittel ist, um die alten Stücke improvisatorisch weiter zu denken. In dieser Hinsicht laufen beim Pianisten Çağrı Sertel die Fäden zusammen: Sein Spiel webt mit maximaler sinnlicher Eleganz feinsinnig intelligente Netzwerke, um die homophone Tonsprache der „Originale“ mit ihren byzantinisch, jüdisch armenischen Einflüssen reicher und vielgestaltiger zu machen. So meditativ diese feingewebten, ornamentreichen musikalischen Teppiche sind, so vielgestaltige Momente gehen aus ihr hervor: Staunen lassen viele magische Klangmischungen aus unisono geführten Stimmen, die manchmal nur einen Mikroinitervall beieinander oder nebeneinander liegen. Kraftvolle Wendungen geben dem musikalischen Fluss immer aufs neue eine eindringliche Rhetorik. Mal schweift ein meditatives Bass-Solo wie ein Gebetsruf durch den Raum, um dann wieder den anderen Instrumenten Freiräume zu eröffnen. Wem in diesem Moment an diesem Ort das empfindsame Eintauchen gelingt, fühlt sich erhaben und über der schnöden, einem harmonischen Miteinander der Kulturen leider oft feindlich gesinnten Realität stehend.

Stefan Pieper

 

 

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