BERLIN / Neuköllner Oper: FRAU OHNE SCHATTEN – Ein Musiktheaterabend nach Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal von Ulrike Schwab und Tobias Schwencke; 9.9.2023
„Von dem Gesetz, das alle Wesen bindet, befreit der Mensch sich, der sich überwindet.“ (Goethe)
Copyright: Thomas Koy
Richard Strauss größte und anspruchsvollste Partitur in der Neuköllner Oper, das heißt rein räumlich im ehemaligen Ballsaal der Passage Neukölln mit bis zu 220 Plätzen? „Die Frau ohne Schatten“, das heißt die monumentale Fabel über das Menschsein als Mitmenschsein, über die Befreiung zur Humanität durch Selbstüberwindung in der Nachfolge von Mozarts „Zauberflöte“ mit fünf extrem schwer zu singenden Hauptrollen, vor denen selbst die erfahrensten dramatischen Stimmen Respekt haben. Hybris, Wahnsinn oder gar Ironie? Nein, überhaupt nicht.
Die Antwort ist einfach: Regisseurin Ulrike Schwab und der musikalische Leiter Tobias Schwencke haben eine eigene kammermusikalische Fassung als genuinen Musiktheaterabend nach Strauss und Hofmannsthal auf zwei Stunden gekürzt, erstellt, was erstaunlicherweise selbst für eingefleischte Verehrer dieser Oper überraschend gut funktioniert.
Das nicht zuletzt deshalb, weil Schwencke in seiner Bearbeitung für Kammerorchester ein bedeutender Wurf gelungen ist: Wie einst Schoenberg in seinem 1918 gegründeten Verein für musikalische Privataufführungen in Wien, der die musikalische Avantgarde fördern und eine bessere Kenntnis moderner Musik ermöglichen sollte, hat Schwecke ein fantasievolles Arrangement, das sich kreativ urwüchsig an die Vorlage hält, ersonnen: Mit Oboe, Klarinette, Posaune, Akkordeon, Schlagwerk, Violine, Viola, Cello, Kontrabass und Klavier werden zauberische Klangwirkungen erzeugt, die in den emotionalen Höhepunkten genauso packen wie in der Fassung für großes Orchester. Ich kenne das Stück seit 1977 aus der Wiener Staatsoper mit Böhm, Rysanek, Nilsson, Hesse, King, Berry und war vom ersten Moment an von den Klanguniversen dieser irisierenden Geister- und tobenden Menschenwelten fasziniert.
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Die Faszination stellt sich im Kern auch in der Neuköllner Oper ein, zumal grosso modo von den jungen Sängern und Sängerinnen fantastisch gesungen wird. Hrund Ósk Árnadóttir als Kaiserin mit ihrem lyrisch aufblühenden unendlichen höheren Register hätte sicherlich auch Leonie Rysanek gefallen. Der ebenfalls lyrische Bariton Joa Helgesson singt einen ungemein differenzierten Barak. Dieser Färber würde jedem großen Haus in dieser Rolle Ehre machen und ist noch dazu ein begnadeter Darsteller. Der blutjunge, heldisch auftrumpfende Tenor Chunho You als toller Kaiser behält seine großen zwei Auftritte. Er wird, wen wundert’s, an der Deutschen Oper in Wagners „Die Meistersinger von Nürnberg“ im Dezember 2023 mit dabei sein. Die Mezzosopranistin Catrin Kirchner gibt eine düstere Amme im roten Tüllrock, die sich wie alle Rolleninterpretinnen in den tiefen Lagen leichter tut als mit den unverschämt schweren Spitzentönen. Der samtig timbrierte Bariton David Ristau darf diesmal ein sichtbarer Geisterbote sein. Er übernimmt in gut klingendem Falsett auch die Stimme des Falken. Von You und Ristau werden auch die Rollen zweier Brüder des Barak übernommen. Als kluger Kniff erweist sich die Besetzung der Färberin mit der grandiosen Schauspielerin Franziska Junge. Erstens weil sie ein ungemein berührendes Porträt der vielschichtigen Figur der Färbersfrau auf die Bühne bringt, aber auch weil sie mit ausgeweiteten melodramatischen Passagen ihren Gesang, der sich genau an die in der Partitur vorgeschriebenen Töne hält, chansonhaft anlegt, so hochdramatischen Druck aus dem kleinen Saal nimmt und eine Überforderung der Ohren des Publikums vermeidet.
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Die Produktion, die sich mit „Frau ohne Schatten“ genau an den Auftrag des Hauses hält, Werke, die gar nicht oder aber in zu wenig hinterfragter Form an den großen Häusern Berlins gegeben werden, in den Spielplan zu nehmen, bringt es pro Jahr zw. 10-14 Produktionen in unterschiedlichen Formaten – mit 6-10 Uraufführungen sowie Wiederaufnahmen. Man will hier Geschichten über das erzählen, was für möglichst Viele wichtig ist und sonst nicht auf die Bühne kommt. Musikalisch vielfältig, mit Humor, Leidenschaft und Kreativität.
Für „Frau ohne Schatten“ nach Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal ist man von folgender These ausgegangen: Die Oper „vereint alles, was Oper zu bieten hat: Liebe, Hass, Eifersucht, Leidenschaft, Träume, Sehnsüchte, Menschen, Märchengestalten. Legt man jedoch den Kern der mit Geisterwesen, Zauberei, phantastischen Welten und fabelhaften Tierwesen geschmückten Geschichte frei, entdeckt man zutiefst Menschliches: Paare, die miteinander ihre existentiellen Beziehungsprobleme verhandeln, die sich fragen, wie sie leben möchten, miteinander und füreinander. Selbstbilder und Sehnsüchte stehen auf dem Prüfstand, doch im Zentrum der Auseinandersetzungen steht die Frage nach der Elternschaft. Welche Wunden schlägt der Schmerz des unerfüllten Kinderwunsches in eine Partnerschaft? Wie wirkt es sich auf Beziehungen aus, wenn sich einer bewusst gegen Kinder entscheidet und dem Partner damit ein tiefes Bedürfnis verwehrt? Was geschieht, wenn Frauen die Entscheidung über die Mutterschaft vom Staat, von der Gesellschaft oder vom eigenen Körper abgenommen wird? Welche Auswirkungen hat es, wenn der Wille, niemals Mutter zu werden, zum politischen Kampf wird?“
In der Umsetzung hat sich Ulrike Schwab, die diese Oper offenbar liebt – da wird nichts brutalisiert oder gegen die Musik verhandelt – dazu entschlossen, den Publikumsraum zur Bühne zur machen (Bühne und Kostüme: Pia Dederichs, Marina Stefan), wobei das Orchester auf der Bühne Platz nimmt. Und noch mehr: Die beiden kleinen Spielpodien des Kaiser- und des Färberpaars sind umstanden von acht gemachten Betten, auf denen ebenfalls gesessen werden darf, die aber auch dramaturgisch vom Personal des Stücks genutzt werden. Durchlässigkeit und „das geht und alle an“ werden hier zum Programm. In der Personenführung setzt Schwab auf eine präzise Psychologie der Figuren, ihren ambivalenten Gefühlen und ihren Konflikten wird auf den Grund gegangen.
Die größte einschneidende Änderung des im Vergleich zum Original auf zwei Stunden netto gekürzten Abends besteht im Weglassen des apotheotischen Schlusses ab „Nun will, ich jubeln“. Bei Schwab entschließt sich die Färberin dazu, nach dem „Fürchte Dich nicht“ des Barak, ihre Koffer zu packen und ihren Mann zu verlassen. Von Erwartungshaltungen hat sie genug. Sie weiß nun ganz bestimmt, dass sie und Barak nicht zueinander passen und beseitigt so die dramaturgische Schwäche bei Hofmannsthal, das aus dem so disparaten, dauerstreitenden Paar auf einmal alles „Liebe, Wonne, Waschtrog“ werden soll. Kaiser, Kaiserin und Färber finden in einer ausgelassenen Feier zueinander.
In Orchesterzwischenspielen hebt sich eine Stimme aus dem Off, die, soweit ich das verstanden habe, das Aufbrechen von gesellschaftlichen Rollenbildern von Frauen betreffen. Es geht um die Wahrnehmung und Nutzung der universalen umfassenden Möglichkeiten des Menschseins durch alle. Daher braucht Elternschaft Platz im Arbeitsleben. Da meine Mutter trotz vier Kindern schon in den fünfziger Jahren in der biochemischen Forschung tief in angestammten Männerdomänen Fuß gefasst hat, weiß ich, was sie meint, und kann dem nur zustimmen.
Mit dieser „Frau ohne Schatten“-Bearbeitung nach einem geglückten „Don Giovanni“ ist die Neuköllner Oper mutig weiter mitten ins Stammrepertoire großer Häuser eingedrungen und hat ihre eigene Sicht auf das Werk in einer liebevollen wie klugen Adaption überzeugend dargeboten. Dieses auf eine private Initiative zurückgehende vierte Berliner Musiktheater und Ankerinstitution zwischen Staatsopern und freier Szene ist ein interessanter und weltoffener Ort der Begegnung mit historischen Opern oder aber Uraufführungen und Theaterexperimenten, die sonst nirgendwo in der deutschen Hauptstadt geboten werden. Ich freue mich jetzt schon auf die Uraufführung vom „Teufel im Lift“, einem Musiktheater von J.S. Bach, John von Düffel und der auf Alte Musik spezialisierten Lautten Compagney Berlin, die ab 14.10. an der Neuköllner Oper laufen wird.
Die aktuelle „Frau ohne Schatten“ läuft noch bis 24. September. Wenn Sie die Möglichkeit haben, sehen Sie sich das Stück abseits des Mainstreams und dennoch so respektvoll im Umgang mit der Vorlage unbedingt an!
Wichtig, bevor ich’s vergesse. Der Abend wurde vom trotz Hitze zahlreich erschienen Publikum einhellig und ausgiebig bejubelt.
Dr. Ingobert Waltenberger
Fotos: Copyright Thomas Koy