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BERLIN / Neuköllner Oper DER ZWEITE KIRSCHGARTEN – Ein Musical frei nach Tschechov von WOLFGANG BÖHMER (Musik) und MARTIN G. BERGER (Text)

27.12.2025 | Operette/Musical/Show

BERLIN / Neuköllner Oper DER ZWEITE KIRSCHGARTEN – Ein Musical frei nach Tschechov von WOLFGANG BÖHMER (Musik) und MARTIN G. BERGER (Text); 26.12.2025

Jazziges Familiendrama als Spiegel der Zeit

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Foto: Peter van Hessen

Die dramaturgische Grundkonstellation der Figuren ist Tschechovs berühmter, tragisch gesellschaftskritischer Komödie entnommen. Eine durch den Tod eines Jungen zerrüttete Familie, Besitzer eines blühenden, schwere Früchte tragenden Kirschgartens muss den Grund wegen hoher Verschuldung verkaufen. Der ehemalige Leibeigene Lopachin, nunmehr als Kaufmann vermögend geworden, schlägt vor, die blühenden Bäume zu fällen, Datschen auf dem Anwesen zu errichten und sie an Sommergäste zu vermieten oder aber die Pflegetochter der Ranewskaja, Varja zu heiraten, was aber beim Plan bleibt. Am Schluss liegt alles verlassen, nur ein alter eingeschlossener Diener bleibt als Relikt einer versteinerten Epoche leblos liegen.

In der Berliner Version gibt es ebenso alte und neue Zeiten, dazu die Last der kolonialen Vergangenheit und einen toten Buben namens Max. Der Kirschgarten wurde vom Urgroßvater in Deutsch-Südwest Afrika= Namibia gepflanzt – ein Deutscher will doch nicht auf seine Schwarzwälder Kirschtorte verzichten – und hat die Bäume bei seiner Rückkehr mit umgesiedelt. Jetzt sind Haus und Hof verwahrlost. An Varja, Adoptivkind der nach Paris ausgebüchsten, dem Alkohol verfallenen und schuldzerfressenen Matriarchin Andrea, bleibt alleine die Last der Erhaltung kleben. Sie hängt am Alten, will den Kirschgarten als letztes Symbol eines nicht mehr existierenden familiären Zusammenhalts irgendwie retten. Also treffen sich alle zum letzten Mal zum finalen Showdown.

Varjas Pflegeschwester Lopachin=Lolo schlägt vor, Airbnbs aus dem Haus zu machen. Davon ließe es sich gut leben. Andreas Adoptivschwester Anja, eifrige Vertreterin der GenZ, lebt von heute auf morgen, verliebt sich in den eingemieteten Linksideologen Trofimov, eines im Laufe des Stücks vom klischeehaften Antikapitalisten zum Bitcoinisten gewandelten Realos. Beide wollen für zwei Jahre nach Hawaii und Familie samt Schuld- und Sühnebürden weit hinter sich lassen. Dann gibt es auch noch den Onkel Gerald, Hallodri, Maulheld und Versager, der außer banalen Anglizismen nichts zu vermelden hat. Am Ende brennt der Kirschgarten und mit ihm verkohlt eine Vergangenheit, die nur noch als böses Phantom alle Familienmitglieder vergiftet hat. Alle gehen ihres Wegs in eine offene Zukunft.

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Foto: Peter van Hessen

Das Handlungsgerüst ist trefflich gezimmert. Regisseurin Alexandra Liedtke, die Tschechovs Kirschgarten 2024 am Salzburger Landetheater inszeniert hat, konzentriert sich bei fast leerer, einige Bäume abstrakt andeutenden Bühne und wenigen Requisiten (Bonsais, Gläser mit Kirschen, afrikanische Holzfiguren) auf die komplexen emotionalen Beziehungs- oder Nichtbeziehungsgeflechte der Figuren untereinander. Was ihr mit dem spielfreudigen und sanglich akzeptablen Ensemble durchaus gelingt (Franziska Junge Andrea, Julia Klotz Varja, Tina Ajala Lopachin/lolo, Laura Goblirsch Anja, Markus Schöttl Onkel Gerald und Samuel Franco Trofimow) Wenig originell sind hingegen die von Anja mitgefilmten, auf die Rückwand der Bühne projizierten Lives.

Exzellent ist die von Wolfgang Böhmer stammende Musik, die mit Klavier, Kontrabass, Bajan (chromatische Knopfharmonika), Horn, Trompete und Saxophon einen anspruchsvollen Klangteppich irgendwo zwischen Kurt Weill, Jazz und Chansons, und damit qualitativ meilenweit über den üblichen kitschigen Musicalohrwürmern spannt.

Was aber eben nicht passt und in Relation zur smooth fließenden Musik nur hölzern und oft peinlich flapsig daherkommt, ist der Text, der im ersten Teil mit Ausdrücken wie fucking, cringe und verkackt nicht spart. Außerdem wollen sich die Musik und der kantige, wenig musikalisch gedachte deutschsprachige Text von Autor Martin G. Berger (wenn englisch gesungen wird, tun sich sofort andere Welten auf) kaum zu etwas in sich Stimmigem fügen.

Freundlicher Applaus im ausverkauften Haus.

Dr. Ingobert Waltenberger

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