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BERLIN/ Musikfest: RIAS KAMMERCHOR mit Chormusik vom Mittelalter bis zum Frühbarock

17.09.2020 | Konzert/Liederabende


RIAS Kammerchor Berlin in der Philharmonie. Foto:Justus Hoffmeier

Berlin/ Musikfest Berlin: der RIAS KAMMERCHOR mit Chormusik vom Mittelalter bis zum Frühbarock, 16.09.2020

Erstmals seit mehr als einem halben Jahr durfte der RIAS Kammerchor wieder live in einem Konzertsaal vor Publikum singen: am 16. September im Rahmen des Musikfestes Berlin in der Philharmonie.

Auf das Okay hatten der Chor und die Musikfans allerdings warten müssen. Die mehrfachen Corona-Infektionen nach Gemeindegesang in einigen Kirchen waren zum Alarmzeichen geworden. Doch mit einem angepassten, nur einstündigen Programm ohne Instrumentalbegleitung konnte schließlich die Hürde genommen werden.

Chormusik vom Mittelalter bis zum Frühbarock aus England, Italien und der franko-flämischen Schule stand nun auf dem Programm und damit eine Rückkehr zu den Wurzeln der klassischen Musik. Das passte genau und die Optik ebenfalls. Die ständig wechselnde Platzierung der 34 Damen und Herren, die nach und nach sämtlich zum Einsatz kamen, erwies sich nicht nur als höchst gelungenes Hörereignis.
Sie wirkte auch wie eine gut durchdachte Choreographie, die nach und nach die ganze große Bühne fast kreisförmig in Anspruch nahm. Sicherheit wurde dabei weiter groß geschrieben: die vorne stehenden Damen drehten dem Publikum beim Singen stets den Rücken zu. Dennoch strömten die Renaissance-Klänge unter der engagierten Leitung von Justin Doyle ungehindert und mit zunehmender Strahlkraft durch die Philharmonie.

Ganz weit, bis ins 12. Jahrhundert zur Mystikerin Hildegard von Bingen, ging der Chor zurück. Neun Damen starteten una voce mit „O virtus Sapientiae“, einer Hymne an die Weisheit, womit wohl die Dreifaltigkeit Gottes gemeint ist. Wie Engelgesang zogen die schlichten Weisen durch den großen Saal.

Nach drei Zeilen von Orlando di Lasso, genannt „Fulgebunt justi“ (Scheine wie die Lilie), dargeboten von einen Kreis bildenden Herren, erstand sozusagen der gesamte RIAS Kammerchor wie Phönix aus der Corona-Asche. Den Anlass bot das „Veni creator spiritus“, eine Motette zu drei Stimmen über den Pfingsthymnus, geschaffen von Giles Binchois, einem Komponisten aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts.

Martin Baker
an der aufbrausenden Orgel unterstützte dieses Chor-Comeback. Seine Impressionen, die zuvor schon die Platzwechsel der Sängerinnen und Sänger gekonnt überbrückt hatten, wurden ebenfalls zum gestalterischen Element. Mit modernen Einsprengseln sorgten sie auch für die Verbindung der früheren polyphonen Klangwelten mit der Gegenwart.

Wie sich das alles entwickelte und musikalisch immer farbenprächtiger wurde, zeigte der weitere Verlauf des Programms, das mehr und mehr die Ohren öffnete. So das „Sanctus“ aus einer Messe von William Byrd, die noch heutzutage in Großbritanniens Kathedralen zu hören ist. Fast schon heutig erschien das „Agnus Die“ von Giovanni Pierluigi da Palestrina (16. Jh.), den noch Johann Sebastian Bach sehr schätzte.
Durchaus nachvollziehbar geriet auch die Klage Jesu im Garten von Gethsemane, der seinen Tod erwartet, während die Jünger, die wachen sollten, schlafen. Vertont von Carlo Gesualdo da Venosa (16. Jh.). Im lateinischen Text bezeichnet sich Jesus interessanterweise selbst als „Menschensohn“ und nicht als Gottessohn!

Wie gekonnt hat anschließend John Sheppard das „Libera nos“ ausgemalt, wie überzeugend haben sich bei dieser Bitte die Stimmen der Damen und Herren verflochten, um dann dem von Tomás Luís de Victoria in eine Motette für zwei vierstimmige Chöre gekleidete „Ave Maria“ den nötigen Glanz zu verleihen.

Mehr Zeit brauchte das Chorstück „Unser Leben ist ein Schatten“ von Johann Bach (1604-1673). Er gilt als der älteste beglaubigte Komponist der Bachfamilie und war ein Großonkel von Johann Sebastian Bach. Dieses frühbarocke Werk knüpft nicht mehr an die Gregorianik an, sondern basiert auf den Chorälen von Martin Luther.

Ein neues Fenster hat sich damit aufgetan. Den zuweilen temperamentvollen, vom Orgelspiel unterstrichenen Passagen, folgt ein ruhiger Schluss, dem sich jedoch noch ein kurzes, aber überschwängliches 16-stimmiges „Cruzifixus“ von dem etwa gleichaltrigen Antonio Caldara anschließt. Feinste Polyphonie. Ist das noch zu toppen?

Durchaus. Nach dem anhaltend heftigen und lautstarken Beifall des teilweise jungen Publikums greift Justin Doyle noch mal ein Jahrhundert zurück und setzt mit dem „Jubilate Deo“ von Giovanni Gabrieli den passenden, echt jubelnden Schlusspunkt. Er selbst sowie die Sängerinnen und Sänger explodieren fast vor lauter Glück. Auch die Renaissance des RIAS-Kammerchors ist überzeugend gelungen. Daran hat das Publikum aber ohnehin nicht gezweifelt und feiert dieses großartige Comeback mit „standing ovations“.

Wer’s verpasst hat, kann es am 23.09. ab 20:03 Uhr als Aufzeichnung im Deutschlandfunk Kultur hören, deutschlandweit über Satellit und als Livestream unter www.deutschlandfunkkultur.de empfangen.

Ursula Wiegand

 

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