BERLIN / Konzerthaus YOUNG EURO CLASSIC – BUNDESJUGENDORCHESTER DEUTSCHLAND; 6.8.2022
Um den Orchesternachwuchs in Deutschland muss man sich keine Sorgen machen
Marc Albrecht und das Orchester. © MUTESOUVENIR I Kai Bienert
Am Samstag nach der Eröffnung spielte das deutsche Bundesjugendorchester unter der künstlerischen Leitung von Marc Albrecht und mit den fabulösen Solisten Antje Weithaas (Violine) und Maximilian Hornung (Cello) das Doppelkonzert für Violine, Violoncello und Orchester in a-Moll Op. 102 von Johannes Brahms sowie die Erste Symphonie in D-Dur von Gustav Mahler.
Zuvor hielt der Pate des Abends, der Schauspieler Boris Aljinovic, eine großartig humorige Rede. Nach Wien sei er kürzlich gereist. Das Rendezvous mit der neuen Flamme ist Corona bedingt ins Wasser gefallen. Eigentlich traurig. Aber wir sind ja in Wien, da gibt es für alles eine Lösung. Zumindest ein Kaffeehausbesuch tröstet schon über vieles hinweg. Und wie er so sitzt bei seiner Melange – oder war es ein Einspänner? – da bemerkt er auf einmal zwei Männer am Nebentisch, die sich über ihre neuen Werke unterhalten. Brahms und Mahler waren das höchstpersönlich, der eine spricht über sein letztes Orchesterwerk und der andere über seinen sinfonischen Erstling. Man schreibt das Jahr 1886 oder doch 1887. Sei’s drum. Die beiden so ungleichen Musiker räsonieren darüber, ob die beiden Werke nicht in einem Konzert aufgeführt werden können?
Antje Weithaas, Maximilian Hornung und das Orchester. © MUTESOUVENIR I Kai Bienert
Zeitsprung. Es ist der 6. August 2022 und im Berliner Konzerthaus macht sich das Bundesjugendorchester daran, einen wahrlich fulminanten Konzertabend mit genau diesen Stücken von Brahms und Mahler zu absolvieren. Schon die Festspielfanfare des Iván Fischer glänzt wie das viele Gold im Saal. Um wie brillanter erklingt sie doch im Vergleich zum Eröffnungsabend. Doch Fairness muss sein. Der Altersschnitt beim National Youth Orchestra of the USA lag gefühlt bei 14, beim Bundesjugendorchester eher bei 18. Und dennoch: Was diese deutsche Sonderprojekt-Formation an Professionalität auf die Bühne gezaubert hat, wird mich und das Publikum wohl noch lange beschäftigen. Einen großen Anteil am Gelingen des Konzerts hatte der Dirigent Marc Albrecht, der nach einem soliden Doppelkonzert von Johannes Brahms bei Mahlers Symphonie „Der Titan“ die musikalische Phalanx zu einer berauschenden Höchstleistung animierte. Antje Weithaas zirpte mit fein gesponnenem Violinton und Maximilian Hornung nahm als sonor pfiffiger Herausforderer mit seinem streit- und redegewandten Cello die freundliche Einladung zur Versöhnung an. Als Zugabe überraschten die beiden mit dem witzig dahin geschmierten „Bayerischen Walzer“ von Jörg Widmann.
Vor etwa 50 Jahren bekam ich als Jugendlicher meine erste Schallplatte geschenkt. Es war die erste Symphonie von Gustav Mahler mit Rafael Kubelik und dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks (Deutsche Grammophon). Der Eindruck auf mich und mein Leben war gewaltig und ich dachte nicht, dass so ein aufrüttelndes musikalisches Erlebnis wiederholt oder noch getoppt werden kann. Kann es aber. Gestern habe ich es erlebt. Die emotionale Bahnfahrt des Himmelhochjauchzend – zu Tode betrübt, diese wahnsinnig attraktive Mischung aus Ländler, Marsch, Walzer und Volksliedern, in sphärische Klänge gehüllte Natur samt einem leuchtenden Sternenkosmos, der denjenigen in Beethovens Neunter noch weit übertrifft. Der Kuckuck und anderes zwitscherndes Federgetier, Zitate aus den Liedern „Ging heut Morgen übers Feld, Tau noch auf den Gräsern hing“ (zweites Lied aus den „Liedern eines fahrenden Gesellen“), „Die zwei blauen Augen von meinem Schatz“ und dann der düstere Kanon „Bruder Jakob“ mit dem so schönen Kontrabass-Solo. Die chaotisch apokalyptische Explosion zu Beginn des letzten Satzes, die Raserei in Seele und Herz, die nach und nach beruhigt sich zu mehreren hymnischen Anläufen aufschwingt. Schließlich der ekstatische letzte Durchbruch nach D-Dur. Die Hörnergruppe steht auf, jubelnd und mit meisterlichen Trompeten- und Posaunenfanfaren geht es ins Finale.
Das Publikum setzt den Jubel nach Verklingen des letzten Tons in selbiger Intensität fort. Lob gebührt allen, den Trompeten, Oboen, Fagott, Klarinetten, den Hörnern, Pauken, dem Schlagzeug. Die Streicher haben vorgeführt, was ein homogener Klang bewirken kann, die Musiker und Musikerinnen, dass sie für hohe und zu höchsten Aufgaben bereit und dafür bestens gerüstet sind. Und wenn das gesamte Orchester in Bayreuth wegen Corona ausfallen sollte, das Bundesjugendorchester könnte ohne Weiteres einspringen. Als Zugabe haben Marc Albrecht und das Bundesjugendorchester nämlich das Vorspiel zum dritten Akt von Richard Wagner „Lohengrin“ gewählt. Ein jauchzender Abschluss eines denkwürdigen Konzerts. Auf jeden Fall war es das Beste, das ich je bei dem Young Euro Classic Festivals in den letzten 10 Jahren gehört habe.
Anmerkung: Das Bundesjugendorchester ist das nationale Jugendorchester der Bundesrepublik Deutschland mit Sitz in Bonn. Es arbeitet als Sinfonieorchester Jugendlicher zwischen 14 und 19 Jahren und wird getragen von der Projektgesellschaft des Deutschen Musikrates. Die Musiker qualifizieren sich mit einem Probespiel vor einer Jury für die Mitgliedschaft. Während der Arbeitsphasen arbeitet das Orchester unter Anleitung von Dozenten, unter anderem der Berliner Philharmoniker, und dem jeweiligen Dirigenten. Jährlich werden drei- bis vierwöchige Arbeitsphasen mit anschließender Konzerttournee durchgeführt. Dabei haben wechselnde Dirigenten die künstlerische Leitung inne. Hinzu kommen kurzzeitige Sonderprojekte. Viele ehemalige Mitglieder spielen heute in Berufsorchestern oder sind bekannte Solisten geworden.
Dr. Ingobert Waltenberger