BERLIN / Konzerthaus YOUNG EURO CLASSIC 2023 – Das EUROPEAN UNION YOUTH ORCHESTRA unter der Leitung von MANFRED HONECK spielt Musik von James MacMillan, Prokofiev und Shostakovich; 16.8.2023
Foto: Mutesouvenir / Kai Bienert
Die 24. Ausgabe von Young Euro Classic wirbt allerorts in Berlin für Aufmerksamkeit. Die künstlerisch sinnvolle und pädagogisch wichtige Initiative, die jungen Musikerinnen und Musiker über eine begrenzten Probe- und Konzertzeitraum unvergessliche Begegnungen und Erfahrungen ermöglicht, soll im Falle des seit 1976 bestehenden European Union Youth Orchestra Einheit und gemeinsames Musizieren fördern sowie einen absoluten Willen zu Exzellenz demonstrieren. Das Orchester rekrutiert sich aus den begabtesten Nachwuchsspielern aller EU-Mitgliedstaaten. 120 Mitglieder im Alter von 16 bis 26 Jahren aus allen 27 EU-Ländern sind es, die jedes Jahr aus mehr als 2.500 Bewerbern ausgewählt werden.
Der „Pate des Abends“, Sir John Tusa, britischer Journalist und Kulturmanager, Vorstandsmitglied des EUYO, weist in seiner kurzen Ansprache auf die Gründungsideen und Mission des Orchesters hin. Wie die Gesellschaft ist auch ein Orchester ein Ort des Lernens, Spielens, Arbeitens, Auftretens, um die eigene Rolle und die der anderen zu verstehen. Wir alle stimmen darin ein, dass die Faszination der Musik tief und weitreichend ist. Sie entwickelt Talente und das Verständnis für sich selbst und die Gesellschaft, stiftet Gemeinschaften und heftet sich nachdrücklich Schönheit und positive Lebenswerte auf die Fahnen. Kreative Räume und Zukunftsgestaltung, Begeisterung und miteinander Erleben, stabile Brücken zwischen dem professionellen Musikbusiness und dem Nachwuchs schaffen.
Ich kenne die Konzerte mit Jugendorchestern aus allen Teilen der Welt im gut klimatisierten Berliner Konzerthaus seit zehn Jahren. Es sind oft einzigartige Momente mitreißender Passion, ansteckender Energie, auch der kollektiven Rührung (Tränen im Orchester und im Publikum), zu erleben wie kaum sonstwo im regulären Klassikbetrieb. Mit dem undiszipliniertesten und besten Publikum zugleich. Ersteres, was das lautpfiffig unterlegte Dreinklatschen nach jedem Satz einer Symphonie anlangt, zweiteres, was die immense Begeisterungsfähigkeit und wohl auch die konzentrierte Intensität des Zuhörens betrifft.
Gestern wurden der österreichische Dirigent Manfred Honeck, seit 15 Jahren Musikdirektor des Pittsburgh Symphony Orchestra und das Jugendorchester der Europäischen Union nach einer glühend musizierten Fünften Symphonie in d-Moll Op. 47 von Dmitri Shostakovich frenetisch bejubelt. Diese grandiose Symphonie in klassisch viersätziger Struktur aus dem Jahr 1936 steht den spätromantischen Klangwelten eines Gustav Mahler nahe. Shostakovich selbst löste gegen Ende seines Lebens das Rätsel um diese in brütend-melancholischer Schwere, karikatural schriller Scherzo-Stimmung, schmerzlich melodischer Schönheit, instrumentaler Eigenwilligkeit und wild hochgepeitscht-hohlem Jubel begangenem Finale befangener Symphonie selbst, als er äußerte: „Ich denke, jedem muss klar sein, was in der Fünften passiert. Es ist, als schlage jemand mit dem Stock auf dich ein und sage dabei: Deine Aufgabe ist Jubeln, deine Aufgabe ist Jubeln und du stehst auf und wandelst, zitternd und murmelnd: Unsere Aufgabe ist Jubeln, unsere Aufgabe ist Jubeln.“
Wie Manfred Honeck mit dem Jugendorchester, bei dem die gewaltige Streichergruppe (davon 10 Kontrabässe) und der engagierte Konzertmeister besonders positiv auffallen, nachschöpfend diesen Kosmos erstehen lassen, ist ereignishaft. Honeck setzt stets auf eine optimale Klarheit der Zeichengebung, was ihn bei Orchestern (und Chören) neben seiner Noblesse und geschmeidigen Eleganz sehr beliebt macht. Die dynamischen Zeichen dehnt er etwa im Gegensatz zu Bernhard Haitink ins Extrem, die Pianissimi dämpft Honeck fast bis zur Unhörbarkeit, die Entladungen im grotesk besoffenen Scherzo und im Allegro non troppo kommen so umso stärker zur Geltung. Die artikulatorischen Akzente fallen präzise und knapp aus. Klangliche Schönheit und expressive Gestik müssen kein Gegensatz sein, wie wieder einmal zu erleben war. Nach dem herzergreifenden, in kammermusikalischer Transparenz zelebrierten Largo geht es in repetitiver Nachdrücklichkeit in ein schmetterndes D-Dur, das etwas hymnisch abfeiern soll, was sich scheel verzerrt selbst auf die Brust klopft. Die Fünfte Shostakovich bietet zudem ein ideales Experimentierfeld für ein junges Orchester, gibt sie doch Gelegenheit zu vielerlei Soli und beschäftigt neben den üblichen Streichern, Holz- und Blechgruppen auch ein Klavier, eine Celesta, Harfe und ein riesiges Schlagzeug.
Foto: Mutesouvenir / Kai Bienert
Vor der Pause stand das dritte Klavierkonzert von Sergej Prokofiev in C-Dur Op. 26 mit dem englischen Pianisten Benjamin Grosvenor als Solisten im Zentrum des Interesses. Bei diesem narrisch-genialischen Streich fällt mir immer wieder Nestroys „Einen Jux will er sich machen“ ein. In diesem sportlichen Stimmungskanonenwurf erfreuen das humorvolle Muskelmessen der Stimmgruppen, die an Filmmusik erinnernden plakativen Schilderungen atmosphärischer Wechsel, das übermütige Springen der Themen wir Fohlen auf der Sommerwiese. Prokofiev spielt in diesem 1917 bis 1921 entstandenen Bravourstück mit schillernden Orchesterfarben, rhythmischer Komplexität und einem an Virtuosität kaum zu übertreffenden Klavierpart. Grosvenor, einer der aufsehenerregendsten Pianisten der jüngeren Generation, sitzt ganz ruhig da und absolviert die rasanten Läufe die Tastatur rauf und runter mit glasklar perlendem Anschlag und hoher Präzision, noch dazu in einer verblüffenden Leichtigkeit. Hat es das Klavier im ersten Satz bisweilen schwer, sich gegen die Orchesterfluten zu behaupten (Honeck hätte das Orchester da ruhig etwas zurücknehmen können, ohne auf Ausdruckskraft verzichten zu müssen), lassen der Variationensatz und das furiose Finale im dritten Satz genügend Raum, die stupende Fingerfertigkeit und die brillante Technik des Solisten bewundern zu können. Das Orchester läuft dazu wie eine gut geölte Maschine, lässt das instrumentale Feuerwerk schnurren und den Maschinenraum der perkussiv verspielten romantischen Partitur poliert glänzen.
Was der mit einem Exklusivvertrag an DECCA gebundene Pianist musikalisch wirklich drauf hat, wird erst bei der Solo-Zugabe offenkundig. Bei Maurice Ravels „Jeux d‘éau“ darf das Wasser seinen Schabernack treiben. Das Klavier imitiert impressionistisch das Tropfen, Fließen und Wirbeln des Elements. Irisierende Lichtbrechungen und zarte Übergänge bestimmen das Gabriel Fauré gewidmete Stück. Das Zitat Henri de Régniers ‚Dieu fluvial riant de l’eau qui le chatouille‘ (=der Flussgott lacht vom Wasser, das ihn kitzelt) gibt die Kadenz der Stimmung vor. Benjamin Grosvenor at his best. Jubel!
Das Konzert beginnt nach der ohne Dirigenten von den Streichern luxuriös dargebotenen young euro classic festival hymn aus dem Jahr 2011 von Iván Fischer mit James MacMIllans „Larghetto für Orchester“ aus dem Jahr 2017. Manfred Honeck hatte das effektvolle elegische Stück als Überarbeitung eines „Miserere“ für Chor (2009) für das Pittsburgh Symphony Orchestra in Auftrag gegeben.
Foto: Mutesouvenir / Kai Bienert
Am Schluss werden Orchester und Dirigent vom zahlreich erschienenen Publikum zu Recht lautstark bejubelt. Wieder einmal beweist sich: Nicht Perfektion alleine ist es, was einen erinnerungswürdigen Konzertabend ausmacht. Der gemeinsame Gestaltungswille, die schäumende Begeisterung und das Mobilisieren aller Fähigkeiten in entscheidenden Momenten als Spiegelbilder von Humanität und echtem Künstlertum bilden das wirksame Zauberelixier.
Hinweis: Heute (17.8.) gibt es ein Konzert mit dem identen Programm und allen Mitwirkenden nochmals in der Elbphilharmonie Hamburg zu erleben.
Dr. Ingobert Waltenberger