BERLIN / Konzerthaus: QUATUOR AROD im Zyklus Streichquartett International – Werke von Haydn, Attahir und Beethoven (21.3.2024)
Kammermusik in Vollendung
Foto: Julien Benhamou
Vor über 10 Jahren schlossen sich vier junge französische Musiker zusammen und gründeten das Streichquartett Arod. Benannt ist das Ensemble nach einer literarischen Vorlage aus Tolkiens „Herr der Ringe“. Arod, das starke, flinke und feurige Pferd, konnte leicht zwei Reiter tragen, und wurde auf elbische Art ohne Zaumzeug und Sattel geritten. Als Symbol für Kraft und Leidenschaft verkörpert es den Geist der Freiheit und der Kameradschaft.
Gleich zu Beginn des „Kaiserquartetts“ in C-Dur Op. 76 Nr. 3 des zur Zeit der Entstehung 65-jährigen Joseph Haydn wird klar, wie das Miteinander der vier funktioniert. Da gibt es keinen dominanten Primarius wie einst beim Alban Berg Quartett, die vier sehen einander an, atmen wie aus einer Lunge und los geht es mit dem Allegro. Das Bewundernswerte dieser Formation besteht grundlegend darin, dass es einen gemeinsamen Puls, einen inneren Rhythmus der langjährig aufeinander eingespielten Musiker zu geben scheint, der wie ein Präzisionsuhrwerk auch noch dann funktioniert, wenn komplexe Rubati im Tempozirkus ganz schön durcheinanderwirbeln. Dynamik die reiche Klangfarbenpalette entströmen einem verschweißten Miteinander. Hatte ich bei vielen Streichquartetten den Eindruck, dass sie wettstreitend konzertieren und einander wie im Mannschaftssport die motivischen und rhythmischen Bälle zuwerfen, so scheinen sich die Übergänge von einem zum andern Instrument, das harmonische Zusammen auf geheimen Traumpfaden zu materialisieren.
Ganz unterschiedliche Typen haben sich 2013 am Conservatoire de Paris zusammengefunden und den Versuch des Anfangs gewagt. Ihre Erfolgsgeschichte gibt ihnen Recht. Neben dem exquisiten musikalischen Genuss ist es eine Freude, die „Glorreichen Vier“ beim Spiel zu beobachten. Jordan Victoria gibt den umsichtigen Perfektionisten an der ersten Geige, Alexandre Vu den introvertierteren Geist und Genießer an der zweiten Geige, der wunderbar emotionale Bratschist Tanguy Parisot ist ein musengeküsster Kommunikator, sein Blick sucht am häufigsten denjenigen der drei Mitstreiter und Cellist Jérémy Garbarg ist bald als der keck Temperamentvoller der Truppe auszumachen. Am Schluss des Konzerts ist es er, der die Ansage für die einzige Zugabe (ein Bach Choral für Streichquartett bearbeitet, siehe Videolinks) übernimmt.
Zurück zu Haydn: Mit stupend flotter Leichtigkeit und überwiegend die leiseren Nuancen in unendlichen Abschattierungen auskostend, suggeriert uns das Quartett in diesem dritten der Erdödy-Quartette das federnd Quirlige und die trötende ungarische Wirtshausatmosphäre im ersten Satz. Es bittet es das Publikum im Poco Adagio.Cantabile mit den mit simplen figurativen Schnörkeln garnierten Variationen über die „Kaiserhymne“ zum innigen Gebet für Frieden und Ausgleich für Österreich und Europa (das Thema wandelt von Tutti über Duett, Trio und wiederum zum vollen Quartett). Man muss wahrlich kein Monarchist sein, um bei der ätherischen, alle humanistische Empathie bündelnden Melodie – noch dazu in mediterranes Streicherlicht getaucht – zu Tränen gerührt zu sein. Das Sangliche im Vortrag, das verschmitzte Temperament des Quatuor Arod besonders im Menuett erinnert interpretatorisch an das Amadeus Quartett (nicht aber die Tempi, die das Quatuor Arod breiter nimmt). Im die dramatisch kontrastierenden Stimmungen auslotenden Finale geben sich die vier Franzosen als elegante Hüter des und wissende Stimmungszauberer im Haydn‘schen Klangkosmos.
Als packendes zeitgenössisches Stück erwies sich das vom Quatuor Arod bereits für das Label Erato aufgenommene „Al’Asr“ (=Nachmittagsgebet) für Streichquartett des 1989 in Toulouse geborenen französischen Komponisten, Geigers und Dirigenten Benjamin Attahir. Im Oktober 2017 im Théâtre des Bouffes du Nord vom Quatuor Arod uraufgeführt, mischt Attahir Elemente orientalischer und okzidentaler Musiktraditionen zu einer sehr virtuosen und persönlichen Klangmeditation. Aufbauend auf die 103. Koran-Sure „Die Menschen sind wahrlich im Verlust. Außer denjenigen, die glauben und gute Werke tun und sich gegenseitig die Wahrheit ans Herz legen und sich gegenseitig zu Geduld anhalten“, vermag der Komponist und nachschöpferisch das Quatuor Arod alles Hitzeflirren, das sonnenhelle Licht, die Poesie eines trägen ruhigen Nachmittags klanglich allegorisch abstrahierend in unerhörte Klänge zu transponieren. A propos Attahir und Berlin: 2018 wurde sein Klavierkonzert Al Fajr hier von Daniel Barenboim, Giuseppe Guarrera und dem Boulez Ensemble uraufgeführt.
Nach der Pause reüssierte das Quatuor Arod mit einem der mythischen Spitzenwerke der abendländischen Kammermusik, nämlich Ludwig van Beethovens siebensätzig-durchkomponiertem Streichquartett in cis-Moll, Op. 131. 1826 entstanden, meinte Richard Wagner zu dem Stück „Das ist der Tanz der Welt selbst.“ Ich stimme mit George Bernard Shaw überein, der die späten Quartette u.a. als geradlinig und unprätentiös einstufte. Ich schätze die seelenerbauenden klanglichen Wechselbäder aus experimenteller Lust, schrägen Harmonien, weltumarmendem Kontrapunktfisseleien, pastoraler Einfachheit, virtuosen Variationen, operettenhaftem Schalk, ja wenn man so will, dieses herrlich Absurde und Uneinfangbare der Komposition. Das Quatuor Arod vollbrachte in jeder Hinsicht eine Meisterleistung. Auf den Augenblick konzentriert, versank die Welt in purem Staunen über die einzigartigen kreativen Höhenflüge. Dem Quatuor Arod gelang der Spagat zwischen seidigem Wohllaut, hakenschlagendem Dribbeln zwischen all den unversehens platzierten Versatzstücken aus der Beethoven‘schen Werkstatt und wildjungenhafter Gebärde auf das Natürlichste. Ein großer, ein bewegender, ein wichtiger, ein angemessen bejubelter Konzertabend!
Reinschauen in die Bach-Werkstatt des Ensembles?
https://www.youtube.com/watch?v=5oabHhBwq8M „Ach bleib bei uns, Herr Jesu Christ“ B. D. 39 No. 1