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BERLIN/ Konzerthaus: FESTIVAL BALTIKUM mit Neeme und Kristjan Järvi

26.02.2018 | Konzert/Liederabende

Berlin/ Konzerthaus: Festival Baltikum mit Neeme und Kristjan Järvi, 25.02.2018

Mit zwei Konzerten „Kinderstimmen aus Estland“, dargeboten vom Knabenchor der Nationaloper Estonia, endete am 28.02.2018 das vom Konzerthaus Berlin veranstaltete 10-tägige „Festival Baltikum“, das dem Publikum einen Einblick in das pulsierende Musikleben Estlands, Lettlands und Litauens ermöglichte. Zur Eröffnung am 16. Februar kam sogar, wie bereits berichtet, der 82jährige Arvo Pärt nach Berlin, der bekannteste Komponist Estlands und des gesamten Baltikums.

Dass dieser letzte Festival-Tag allein dem Singen gewidmet war, hat seinen Grund. Mit ihren oft Jahrhunderte alten Liedern haben die drei Baltischen Staaten während der 50jährigen sowjetischen Besatzung (1940-90) ihre Identität und Kultur bewahrt, obwohl sie diese Lieder in jener Zeit nicht öffentlich singen durften.

Am 23. August 1989 wurde das Singen der Vorbote zur Wende. Rund zwei Million Litauer, Letten und Esten fassten sich an den Händen und bildeten eine ca. 635 km lange Menschenkette, von Vilnius in Litauen über Riga in Lettland bis nach Tallinn in Estland. Als „Singende Revolution“ ging dieses Ereignis in die Geschichte ein und brachte den drei Baltischen Staaten letztendlich ihre Freiheit zurück.

Das Singen wird schon in den Kindergärten gepflegt, und die Zahl der Schulchöre ist riesig. Das zeigt sich besonders bei den großartigen „Gesangs- und Tanzfestivals“, die alle fünf Jahre in den Baltischen Staaten begangen werden. Lettland ist in diesem Sommer an der Reihe, rd. 13.000 Sängerinnen und Sänger werden in Riga ab 30. Juni in traditionellen Kostümen singen und tanzen.

Das Berliner Festival Baltikum im Konzerthaus

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Neeme Järvi. Copyright: Simon van Boxtel

 

Beim Berliner Festival Baltikum im Konzerthaus gastierten auch zwei Mitglieder der „Dreier-Dirigenten-Dynastie Järvi“: die gebürtigen Esten Neeme und Kristjan Järvi. Um der Sowjetherrschaft zu entgehen, emigrierte die Familie 1980 in die USA. Neeme Järvi schwang alsbald an den wichtigsten Häusern Nordamerikas, Europas und Asiens den Taktstock. Nach wie vor ist der jetzt 80-Jährige einer der international gefragtesten Dirigenten seiner Generation.

Zu seinem Konzert am 20. Februar hatte Neeme Järvi das Estnische Nationale Sinfonieorchester mitgebracht, dessen Künstlerischer Leiter er ist. In Aktion traten auch der Lettische Staatschor „Latvija„, der Cantus Domus als Chorus Mysticus sowie der Kinderchor des Staats- und Domchores, beide aus Berlin.

Insgesamt 250 Mitwirkende präsentierten „Des Jona Sendung“ – ein dreiteiliges opulentes Oratorium für Soli, Chor, Orgel und Orchester des Esten Rudolf Tobias (1873-1918). Als Vorlage diente ihm der im Alten Testament geschilderte Lebensweg des Propheten Jonas.

Das 1904-1908 entstandene Werk, von ihm selbst mit einem deutschen Text versehen, erweist sich als eine zumeist füllige spätromantische Komposition mit Wagner-Einfluss. Die eingestreuten Fugen machen eine Verbeugung vor Johann Sebastian Bach.

„Das Werk ist voller Frische, Schwung und Farbenreichtum“, lobte 1913 der Kritiker Juhan Simm. Das hat auch Neeme Järvi bewiesen. Mit großen exakten Gesten leitete er den voluminösen „Musikapparat“, ließ den in Teil I geschilderten gewaltigen Sturm aufrauschen, sorgte andererseits aber auch für schmeichelnde Zartheit.

Die Solistinnen und Solisten waren ebenfalls große Klasse. Die Rolle des Jonas, der Gottes Auftrag nicht Folge leisten wollte und zur Strafe drei Tage im Bauch eines Wals verbringen musste, war mit dem estnischen Bass Ain Anger – kürzlich der fabelhafte Boris Godunov an der Deutschen Oper Berlin – in allerbester Kehle.
Der anfängliche Trotz des Jonas spiegelte sich ebenso in Angers Stimme wider wie dessen Angst in Wal-Bauch und sein späterer Propheten-Eifer. Jonas sollte die sündige Stadt Ninive bekehren, um sie vor dem Untergang zu bewahren, was ihm schließlich gelang.

Anger zur Seite standen der Finne Johann Tilli als 2. Bass und der in Wien geborene Tenor Peter Svensson. Dazu gesellten sich die deutsche Sopranistin Susanne Bernhard und die Estin Annely Peebo mit ihrem rauchig kräftigen Mezzo.

Kulminationspunkt des Oratoriums ist das „Sanctus“ in Teil II, bei dem alle samt und sonders mitmachen müssen. Pure Power, strahlende Klangfarben und ein überraschender Schlagwerk-Einsatz. Ein heiliges Donnerwetter, das die Ohren der Zuhörerinnen und Zuhörer wackeln ließ. Einige konnten sich – einschließlich Ain Anger – ein leichtes Lächeln nicht verkneifen. Und weil’s so imposant war, taugte es auch als Zugabe. Nach dem kräftigen Schlussbeifall ließ Neeme Järvi das knallige Sanctus nochmals singen und spielen.

Wie der Vater so der Sohn?

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 Kristjan Järvi. Copyright: Peter Adamik

Zwei Tage später, am 22.02., kam Kristjan Järvi mit „Nordic Pulse!“ im Gepäck. Das bedeutet bei ihm seit einiger Zeit – siehe seine „Waterworks“ – ein Gesamtpaket aus Musik und Lichtdesign (hier von Bertil Mark). Ein Projektionskünstler (Philipp Geist) war ebenfalls tätig. Auf diesem Weg will Kristjan Järvi wohl weiter voranschreiten, trennt er sich doch nach 6 Jahren als Chefdirigent vom MDR Sinfonieorchester.

Im abgedunkelten Konzerthaussaal nun etwas Disco-Feeling mit ständig wechselnden Lichtern und Farben. Mit von der „Party“ waren das Konzerthausorchester Berlin, Kristjan Randalu (Klavier), Mari Samuelsen (Violine), Taneli Turunen (Violoncello), das Estonian Folk Chamber Orchestra und die von Achim Zimmermann einstudierte Berliner Singakademie.

Kristjan Järvi (45) bringt zunächst Zeitnaheres und reiht nach Erkki-Sven Tüür (1959) mit „Action Passion Illusion“ (1983) gleich mehrere Kurzstücke ohne Pause aneinander. So Peeter Vähi (1955) mit den rhythmischen „Reminiscences of Youth“ (2014) und sein eigenes, minimalistisches Stück „Aurora“, ein Klangband, das die Naturschauspiele des Nordens wiedergeben soll.

Vor dem gleich anschließenden „Credo“ von Arvo Pärt betritt die Berliner Singakademie das Podium. Das 13minütige Stück, komponiert 1968, ist das letzte Zeugnis von Pärts stark dissonanter Moderne, ein sehr kontroverses Glaubensbekenntnis und ein Wendepunkt in seinem Leben und seinem Musikschaffen.

Nach der Pause wurde es dann volkstümlich und lustig. Eduard Tubins (1905-82) „Estnische Tanzsuite für großes Orchester“ war der Ausgangspunkt. Kristjan Järvi hat daraus eine „Estonian Suite“ für Orchester zusammengestellt. Also Traditionelles umgewandelt zum „Nordic Pulse“ inklusive Licht- und Klanginstallationen, das junge Estland.

Bei flotten Tanzrhythmen waren auch traditionelle Instrumente zu bestaunen, so die Kannel, eine hölzerne Zither (nicht nur eine), Fiedeln sowie besonders gebaute Dudelsäcke und Akkordeons. Schlagwerk und zahlreiche Holzblasinstrumente fehlten ebenfalls nicht.

Munter und ausgelassen klang das, mitunter auch melancholisch. Järvi tanzte auf dem Podium, versprühte gute Laune. Spaß hatten sie offensichtlich alle, die oben und die unten (im Saal).

Viel bisher Unbekanntes war dankenswerterweise bei diesem Festival Baltikum zu erleben, doch es gibt noch einen Nachklang: am 2. März kommt die Dirigentin Mirga Gražinytė-Tyla mit dem Litauischen Nationalen Sinfonieorchester und „Gefolge“ ins Konzerthaus.

Die 31jährige Litauerin ist seit der letzten Saison musikalische Direktorin des City of Birmingham Symphony Orchestra und damit bereits auf den Spuren von Simon Rattle und Andris Nelsons tätig. Solistin des Berliner Abends ist ihre jüngere Schwester, die Pianistin Onutė Gražinytė. Eine „Musikerinnen-Dynastie“ in spe? – Den krönenden Abschluss bildet, wie schon kundgetan, „Adam’s Passion“ von Arvo Pärt und Robert Wilson vom 27.-29. März.

Ursula Wiegand

 

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