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BERLIN / Konzerthaus: BACH H-MOLL MESSE – Vladimir Jurowski dirigiert das RSO und den RIAS Kammerchor Berlin

29.01.2024 | Konzert/Liederabende

BERLIN / Konzerthaus: BACH H-MOLL MESSE – Vladimir Jurowski dirigiert das RSO und den RIAS Kammerchor Berlin; 28.1.2024

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Foto: Peter Meisel

Zwei Sunden Bach at his best. Die h-Moll Messe von Johann Sebastian Bach ist in jeder Hinsicht ein großes Werk mit einer gigantischen dramaturgischen Architektur und über einen Zeitraum von Jahrzehnten entstanden. Diese jeden Gottesdienst zeitlich und vom Anspruch an die mitwirkenden Musiker sprengende Missa solemnis besteht im Grunde aus einer – speziell von Bach bearbeiteten – Aneinanderreihung heterogener Musik und fügt sich doch zu einem betörend schönen, spirituell überwältigenden Ganzen. Die Messe ist für fünf Soli, vier- bis achtstimmigen Chor, Orchester und Basso continuo geschrieben. Sie gliedert sich in die Teile Missa (Kyrie und Gloria), Symbolum Nicaenum (Credo), Sanctus und zuletzt in den Block Osanna, Benedictus, Agnus Dei und Dona nobis pacem. Die h-Moll Messe besteht aus insgesamt 25 Sätzen, davon 16 Chöre, sechs Soloarien und drei Duette.

Bach hat sowohl bei der 1733 mit einer zweckgerichteten Widmung für seinen Landesherrn Kurfürst Friedrich August II versehenen „Kurz-Missa“ – bestehend aus Kyrie und Gloria – er wollte damit einen Hoftitel ergattern, also ein „Prädikat von Dero Hoff-Capelle“ erwirken, als auch für die später entwickelten Teile auf früher Komponiertes zurückgegriffen.

So ist etwa das „Sanctus“ im Grunde schon 1724 für den Leipziger Gottesdienst am 1. Weihnachtsfeiertag entstanden, für die Einleitung zum Symbolum Nicaenum transponierte Bach ein früher entstandenes „Credo in unum Deum“ um einen Ton nach oben. Für einige Teile bediente sich Bach nach dem sogenannten Parodieverfahren bei sich selbst. Das bedeutet, dass beispielsweise aus einer vorhandenen Arie oder einem fertigen Chor nur der Text durch einen anderen ersetzt wird. Bach hat dazu sein eigenes Kantatenwerk als unerschöpfliche Quelle genutzt. Ob die „Ratswahlkantate“ BWV 29, die Kantate „Schauet doch und sehet“ BWV 171, die Weimarer Kantate „Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen“ BWV 12, oder die Festmusik „Preise dein Glücke, gesegnetes Sachsen“ BWV 215, überall wurde Bach fündig. Auch dort, wo Ursprüngliches heute als verschollen gilt.

Wie Klaus Hofmann 2007 schrieb, ist die h-Moll Messe gewissermaßen ein „musikalisches Kunstbuch für Kenner und Liebhaber“, wo Bach nicht nur eine vorhandene Komposition mit einem neuen Text verband, sondern auf Basis von Deklamation, Instrumentierung und Artikulation sich nuanciert auf die „Stimmungslage, den Affekt des neuen Textes“ konzentrierte und ein Thema exemplarisch auf den Punkt brachte. Bach Spezialist Christof Wolff benannte die h-Moll Messe als „musikalisches Vermächtnis“.

Und genau in dieser Hinsicht ist von der Aufführung im Berliner Konzerthaus nur das Beste zu berichten. Vladimir Jurowski ist mit seinem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin (16 Streicher, 2 Flöten, 23 Oboen, 2 Fagotte, ein Horn, 3 Trompeten, Pauke, Theorbe und Cembalo) und dem RIAS-Kammerchor Berlin (14 Soprane, 8 Alt-, 8 Tenor- und 8 Bassstimmen) eine das vollzählig erschienene Publikum begeisternde Wiedergabe gelungen, die die meditativ-träumerische Faktur einzelner Sätze mit dem triumphal-Heroischen verband. Von Trauer bis Freude spannt sich der große Bogen gläubiger Andacht wie nach Trost und Frieden sich sehnender menschlicher Emotionen.

Das Kyrie geht Jurowski ruhig und mit Bedacht an. Der Chor singt in immer größer werdender Involvierung auf ein schlafwandlerisches Legato gestimmt, ganz und gar nicht die strenge polyphone Struktur wie von Otto Klemperer priorisierend, sondern stets den Duktus, das innerste Geheimnis der Musik erkundend, ja auf ihr Intimstes abklopfend.

Jurowskis ruhiger Dirigierstil, den Oberkörper in überwiegend regungsloser Haltung, in knappen Gesten elastisch und entspannt Überblick wahrend bis animierend, überträgt sich von der ersten Sekunde an auf Chor und Orchester. Erst im „Cum sancto spiritu“ packt der Chor erstmals voll zu, schlägt Jurowski flotte Tempi an, gewinnt die äußere Dramatik Oberhand über Verinnerlichtes. Der RIAS-Kammerchor, eine Klasse für sich, sang alle Chöre samt Fugen mit federnder Leichtigkeit, intonationsrein, artikulatorisch ausgefeilt. Darüber hinaus ist dieser exquisite Profi-Chor als einer der technisch versiertesten und künstlerisch überzeugendsten nicht nur Deutschlands in der Lage, die Texte in einem beispielhaften Aufeinanderhören der Stimmgruppen in einem wunderbaren Legato-Schmelzklang zu transzendieren und die Verzierungen und raschesten Läufe in homogener Eintracht abzuspulen. Der in allen Stimmen ausbalancierte, traumhaft disponierte Chor konnte seine Glanzpunkte im „Sanctus“, im „Osanna in excelsis“ sowie im abschließenden „Dona nobis pacem“ setzen.

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Foto: Peter Meisel

Die fünf Solisten bildeten das hervorragendste Ensemble, das ich je in einer h-Moll Messe gehört habe. Sie übertreffen jedenfalls alle diejenigen auf Tonträgern, die ich kenne.  Allen voran die strahlenden Sopranstimmen von Julia Lezhneva (die Einzige, die die Noten von einem Tablet ablas) und Alice Lackner (Sopran I und II), der mit Engelsstimme und einer dramaturgisch bestechenden Wort-Klangdurchdringung exzellierende Countertenor Hugh Cutting (Alt) und der hinreißende Patrick Grahl (Tenor). Lediglich der stets stilsichere und altmeisterliche Konzertsänger Christian Immler, fiel, was Projektion und Tragfähigkeit betrifft, doch merklich ab. Zumindest auf meinem Platz im ersten Rang war der Sänger vor allem in der unteren Lage kaum zu hören.

Von den Solisten im Orchester, das 2023 sein hundertstes Bestehen feierte, haben mich die himmlische Querflöte im Tenorsolo Benedictus, die erzählfreudigen Oboen und die gloriose Trompetentrias vollends begeistert. Das geheimnisvolle Flirren der Streicher im von Cutting in schwebenden Piani vorgetragenen „Agnus Die“, (am ersten Pult der ersten Violinen David Nebel), die insgesamt mit einem Riesenanteil die Atmosphäre und Aussage trugen, hat noch lange nachgewirkt. Nur das hinter dem Orchester platzierte Cembalo war relativ wenig präsent, und ging vor allem in den voluminös auftrumpfenden Orchesterpassagen akustisch unter.

Fazit: Es ist von einer bedeutenden und in ihrem Innersten packenden Aufführung bei simultaner Live-Übertragung im Rundfunk zu berichten. Das enthusiasmierte Publikum wird wohl noch lange davon schwärmen. Es bleibt zu hoffen, dass diese Modellaufführung mit betont menschlichem Antlitz irgendwann einmal auf Tonträgern erhältlich sein wird.

Link zur Übertragung mit Moderation und Gespräch mit dem Musikwissenschaftler Bernhard Schrammek (Pause), die ich soeben noch abrufen konnte:

https://www.rbb-online.de/rbbkultur/radio/programm/schema/sendungen/rbbkultur_radiokonzert/archiv/20240128_2000.html

Fotos: Peter Meisel

Dr. Ingobert Waltenberger

 

 

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