BERLIN /Konzerthaus AKADEMIE FÜR ALTE MUSIK BERLIN / CARLO VISTOLI Barockmusik aus London, Leipzig, Venedig; 22.10.2024
Über 40 Jahre lang ist sie nun schon im Geschäft – oder besser gesagt – erfreut sie das Publikum mit ihren Konzerten nicht nur, aber nicht zuletzt treu im Berliner Konzerthaus. Ein gut zusammengeweißtes Ensemble bildet diese Akademie für Alte Musik Berlin, liebevoll abgekürzt einfach „Akamus“ genannt. Das Berliner Pendant zum Concentus Musicus im Wiener Musikverein. Historisch informiert sind sie, und dennoch spielen die Streicher von Akamus mit dem engagierten Konzertmeister Georg Kallweit an der Spitze so seidenweich und in den harmonischen Wandlungen dermaßen zauberisch aufeinander abgestimmt, dass das tänzerisch beschwingte, lebensbejahende und dennoch so um Endlichkeit („vanitas vanitatum“) wissende Barockzeitalter klanglich bildhaft und artikulatorisch plastisch vor uns ersteht.
Auch an diesem ersten Oktoberabend der Saison stellte sich dieses Gefühl ein, bei dem man zum formidablen Streicherblock, erweitert um Xenia Löffler (Oboe), Thor-Harald Johnson (Theorbe) und dem unglaublich guten Raphael Alpermann (Cembalo, Orgel), den italienischen Altus Carlo Vistoli zu einem besonders festlichen Stelldichein mit Instrumental- und Vokalmusik von J.S. Bach, Georg Friedrich Händel und Antonio Vivaldi lud. Da trifft es sich, dass demnächst das gemeinsam musizierte Album „Sacro furore“ mit Vivaldis markanten Sakralkompositionen “Nisi Dominus“, RV 608, „Stabat mater“ RV 621 und der Motette „In furore iustissimae irae“ RV 626, angereichert um dessen Sinfonia „Al Santo Sepolcro“ RV 169, Concerto für Streicher in g-Moll, RV 157 und Concerto ‚Madrigalesco‘ in d-Moll, RV 129 erscheint.
Erbauung und Vergnügen verspricht das Album, eine erquickliche Melange, die auch auf das gestrige Konzert zutraf. Man startete mit der subtil austarierten Sinfonia aus der Kantate „Ich geh und suche mit Verlangen“ BWV 49 von J.S. Bach. Nach Händels schwungvollem Concerto grosso in G-Dur Op. 3 Nr. 3 HWV 314, das sich ganz aus Eigenanleihen früherer Werke zusammensetzt, gab es vor der Pause noch die Bach-Kantate „Ich habe genug“ für Altus, Oboe, Streicher und basso continuo mit Carlo Vistoli als Solisten. Das so besondere Werk, das Bach für das Fest Mariae Reinigung 1727 komponiert hat, weist mit den drei Arien ‚Ich habe genug‘, ‚Schlummert ein, ihr matten Augen‘ und ‚Ich freue mich auf meinen Tod‘ drei der ungewöhnlichsten wie populärsten Eingebungen des Thomaskantors aus. Überwiegend von Bässen oder Baritonstimmen interpretiert, die vor allem für das ruhige Legato der mittleren Arie prädestiniert sind (Akamus hat 2017 eine exzellente Einspielung mit Michael Volle bei Accentus herausgebracht), ist nun ein Countertenor der Solist.
Carlo Vistoli, einigen Wiener Opernbesuchern vom Gastspiel der Opéra de Monte Carlo im Juli dieses Jahres sicherlich als Interpret der Titelpartie von Händels „Giulio Cesare“ mit Cecilia Bartoli als Cleopatra erinnerlich, ist einer der interessantesten Countertenöre der jüngeren Generation. Er verfügt über eine instrumental geführte, vibratoarme, beachtlich voluminöse und dennoch agil-virtuose Stimme, die vor allem in der oberen Mittellage und der Höhe leuchtend aufblüht. Bei der Kantate „Ich habe genug“ habe ich aber trotz elegant geformter Bögen in der ersten Arie insgesamt ein wenig das erdige Fundament und die Expansionsfähigkeit in der tiefen Lage vermisst.
Vistolis Stunde kam nach der Pause im Stabat Mater in f-Moll RV 621 und mit dem Psalm 127/126 „Nisi Dominus“ in g-Moll RV 608 von Antonio Vivaldi. In beiden Werken passt die Tessitura der Stimme vorzüglich. Das im Schaffen Vivaldis frühe Stabat Mater, das die Schmerzen der Gottesmutter Maria beim Kreuztod Jesu knapp ornamentiert mit bewegenden Seufzer-Motiven in neun Abschnitten durchleben lässt sowie die neunsätzige Kantate Nisi Dominus bieten vokales „Futter“ vom Feinsten.
Unterstützt vom ausdrucksstarken, warmen Streicherklang von Akamus erzielte Carlo Vistoli vor allem im ‚Cum dederit dilectis suis‘ (‚Denn der Herr gibt es den Seinen im Schlaf‘) aus Nisi Dominus in endlosen Legatobögen, mit einem beachtlich tragfähigen Pianissimo vorgetragen, eine geheimnisvoll betörende Wirkung. Auch das Larghetto ‚Gloria patri e filio‘, mit Solo-Viola und Orgelbegleitung veredelt, zählte zu den herausragenden Höhepunkten des Konzertabends.
Das gut geölte Konzert für Violine, Oboe, Streicher und basso continuo in B-Dur RV Anh. 18 mit der gewandt und klangschön aufspielenden Oboistin Xenia Löffler rundete den Vivaldi-Teil ab. Dieses Konzert ist insoweit interessant, als es offensichtlich für den Dresdner Hof geschrieben wurde, dem ein Unbekannter eine Oboenstimme hinzugefügt und das Werk in den letzten drei Sätzen zwar Vivaldi-stilecht, aber dennoch stark abgewandelt hat.
Dem ersten Konzert der Saison der Akademie für Alte Musik Berlin im mehr oder weniger ausverkauften Großen Saal des Berliner Konzerthauses war auch ein fulminanter Publikumserfolg beschieden. Carlo Vistoli bedankte sich für die Ovationen mit dem jubelnden, verzierungsüppigen ‚Alleluja‘ aus Vivaldis „In furore iustissimae irae“, das in seiner ganzen opernhaften Pracht auf dem demnächst erhältlichen Album „Sacro furore“ zu hören ist. Eine Signierstunde des Countertenors beschloss den erfreulichen Saisonauftakt von Akamus.
Schlussapplaus. Foto: Dr. Ingobert Waltenberger
Anmerkung: Nach dem Konzert am 22.10. in Berlin geht es mit demselben Programm auf Tournee und Stationen im Centro Cultural de Belém, Lisbon (27.10.), in der St. George Kathedrale, Timișoara, Rumän (7.11.), in der Salle Gaveau, Paris (9.11.) und dem Casino de Montbenon, Lausanne (10.10.). 2025 wird Carlo Vistoli u.a. im Théâtre des Champs-Élysées, Paris (Händel Semele; Athamas), im Teatro dell’Opera di Roma (Händel „Alcina“; Ruggiero), im Teatro alla Scala, Milano Francesco Filidei „Il nome della Rosa“; Berengario, Adelmo) bzw. im Royal Opera House Covent Garden, London (Händel „Semele“; Athamas) zu erleben sein.
Dr. Ingobert Waltenberger