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BERLIN / Komische Oper SAUL – Premiere. Festspielwürdig: Von paranoiden Kriegsführern, streitbaren Familienclans und glitschigem Theaterblut

28.05.2023 | Oper international

BERLIN / Komische Oper SAUL – Premiere; 27.5.2023

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Copyright: Barbara Braun

Festspielwürdig: Von paranoiden Kriegsführern, streitbaren Familienclans und glitschigem Theaterblut

Man kommt sich vor wie bei einer Familienaufstellung oder einer Fernseh-Sitcom. Die drei Geschwister Michal, Merab und Jonathan kabbeln sich die ganze Zeit um die Aufmerksamkeit von Papa Saul, aber auch, weil sie sich allesamt in den schönen David vergafft haben. Wie das? Die Komische Oper reüssiert 100 Jahre nach der szenischen Erstaufführung von „Saul“ in Hannover 1923 dank einer humorvoll heutig betypten, wie nachdenklich subtilen Inszenierung von Axel Ranisch in den gigantischen Bühnenbildern von Falko Herold.

Haben wir Händels Londoner Oratorien nicht als steife Geschichtsstunden alttestamentarischer Fürchterlichkeiten im Gedächtnis? Dann nichts wie ab in die Komische Oper, da werden wir eines Besseren belehrt. Wer außer eingefleischten Händelianern, Halle-Pilgern und erfahrenen Choristen ist, außer dem „Messias“ und „Semele“ (die am 28.5. und 6.6. wieder auf dem Spielplan der Komischen Oper steht), noch mit dem Oratorienschaffen Händels vertraut?

Umso willkommener ist die Neuinszenierung dieses Händel-Oratoriums, das wie die anderen 24 Geschwisterwerke mit großformatigen, kontrapunktisch ausgetüftelten Chören, ganz im Stil der italienischen Oper gehaltenen bunt affektgeladenen Arien und Duetten, sentimentalen Airs und einer üppig bis exotischen Instrumentierung aufwartet. Im „Saul“ kommen zusätzlich zu Streichern, Holz, Trompeten, Posaunen noch Theorben, Tastenglockenspiel, Barockharfe, Orgelpositiv und Kontrabass und besonders tief gestimmte Kesselpauken zum Einsatz.

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Ferhad Baday, Luca Tittolo.. Foto/Copyright: Barbara Braun

Axel Ranisch setzt rund um „Saul“ eine geschickte dramaturgische Klammer, die die Kadenz der gesamten so kurzweiligen Produktion vorgibt. In einem Comic-Video wird die Vorgeschichte von Saul witzig angerissen. Der König reißt sich nach der gewonnenen Schlacht gegen die Amalekiter dem Willen des Gottes nicht folgend alle Tiere des Feindes unter den Nagel, obwohl er sie hätte töten sollen. Der Prophet Samuel erhebt alsdann den Hirtensohn David zum neuen König. Die zweite Zutat: Am Ende des Stücks beschließt nicht der Chor der Israeliten das Stück, sondern Ranisch lässt den Countertenor Aryeh Nussbaum Cohen das wundersam schöne Lied „König David“ von Herbert Howells (arr. Iain Farrington) singen. Da erfahren wir, dass auch David wie zuvor sein in der Schlacht getöteter Schwiegervater Saul unter der Last der Machtfülle in paranoide Ängste und bleierne Melancholie abdriftet, die nur durch Harfenklänge gemildert werden können. „And he called for the music of a hundred harps, To ease his melancholy, They played till they all fell silent, Played and play sweet did they; Butthesorrowthat haunted theheart of KingDavid They could not charm away.“

Macht und vor allem die Angst, sie zu verlieren, gehören wohl zu den übelsten Triebfedern für Unrecht, Willkür und Krieg. Da folgt ein Mord dem anderen, bis der verrottete Autokrat selber im Morast seiner Taten bis über den Hals hinaus einsackt oder zumindest innerlich erstickt. Saul, anfänglich noch glücklich darüber, dass David den Philister-Riesen Goliath bezwungen hat, trachtet von mörderischer Eifersucht und in der Furcht um den Thron geplagt nach Davids Leben. Freilich stellen sich seine Kinder dem feigen Plan in den Weg, sind sie doch von des Jünglings natürlicher Anmut und Charisma fasziniert: Merab ist als Frau David versprochen, will aber anfangs aus Standesdünkel nicht, ihre Schwester Michal verliebt sich Hals über Kopf in den schönen tapferen Krieger und auch Jonathan ist David mit Haut und Haar verfallen.  

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Aryeh Nussbaum-Cohen. Foto/ Copyrigt: Barbara Braun

Aus dieser Konstellation heraus entwickelt Ranisch ganz auf die Affekte der Arien vertrauend, eine moderne Familiengeschichte, die die Leidenschaften und widerstreitende Gefühle der fünf Hauptfiguren (Loyalität zum Vater oder zum siegreichen, ach so erotisch attraktiven Retter des Landes) mit serientauglicher Drastik erzählt. Wie in der Netflix-Kultserie „Elite“ zicken, schmachten und verfolgen alle drei unendlich verwöhnten, egomanen Königskinder mit allen Mitteln ihre jeweils eigenen Ziele.

Jonathan (rundum unwiderstehlich gut Rupert Charlesworth) weigert sich, David, dem er ewige Treue geschworen hat, zu töten und muss dabei ‚zusehen‘, wie der sexuell wohl zu allen möglichen Konstellationen verführbare David seine Schwester Michal (darstellerisch grandios und vokal furios Nadja Mchantaf als passioniert launisches Luder) schwängert. Merab (koloraturschmetternd und streng auf Etikette bedacht Penny Sofroniadou), von den zunehmenden Gefühlsschwankungen des Vaters irritiert, wechselt final in Davids Lager. Saul (darstellerisch bietet er eine scharfe Charakterstudie des gottähnlichen Herrschers auf der abfallenden Bahn, stimmlich überzeugt Luca Tittoto von viril auftrumpfend bis mitleiderregend mit markant sonorem, beweglichem Bariton), von paranoiden Panikattacken zerfressen wie Klytämnestra in Strauss‘ Elektra, will im dritten Akt sogar seinen Sohn Jonathan opfern. In seiner geisteswirren Verzweiflung sucht der Fallende die Hexe Endor (von verschlagener Bösartigkeit Ivan Turčić in einem köstlich travestierten Kurzauftritt) auf, nur um von Geist des Samuel (Stephen Bronk) seinen eigenen Tod prophezeit zu bekommen. Den Hohepriester führt Tansel Akzeybek mit gut fokussiertem Tenor als wendigen, gnadenlosen Opportunisten vor.

Die Stärke der Inszenierung liegt neben dem klugen Setting, Händels „Saul“ spannend-frivol wie eine Berliner Operette und frech wie eine Trash-Comedy zu zeigen, vor allem in der menschelnd ironischen Personenführung des Axel Ranisch und dem gigantisch freakigen Bühnenbild von Falko Herold. Der hat sich nämlich als überwältigenden Gag einfallen lassen (was für ein aufgelegter Foto-Aufhänger für das Titelblatt jeder Opernzeitung), den abgeschnittenen Kopf des Goliaths naturgetreu mit großen Poren, Kinnhaarstoppeln, großen offenen blauen Augen und langen filzigen Haarsträngen, an denen das Personal des Stücks allerlei ‚Turnübungen‘ vollführt, auf die Bühne zu hieven. Auf diesem schrecklich schönen Kopf, der wie nichts anders für die brutale Wirklichkeit von Krieg samt psychologischer Vernichtung des Gegners steht, kann Saul seine Suada halten, können alle in ihrer vermeintlichen Unbesiegbarkeit des Augenblicks sich abrackern, bis sie selber an der Reihe sind.

Der Riesen-Kopf verfault und vertrocknet im Laufe des Stücks, bis nur noch ein kahler Knochenschädelrest übrig bleibt. Eine antikisches memento mori, das auch David einholt. Ranisch zeigt in der besonders grausamen Erdolchung eines Amalekiters (vielversprechend Ferdinand Keller aus dem Opernstudio) durch David bildmächtig gewaltige Verfallserscheinungen der einst so unverdorben puren Seele. Auch er wird, wie wir das in Herbert Howells so berührenden Song mitbekommen, des betäubenden Trostes der Musik bedürfen, um funktionieren und überleben zu können.

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Aryeh Nussbaum-Cohen, Tansel Akzeybek. Copyright/Foto: Barbara Braun

Saul und Jonathan sind tot, ein Trauermarsch erklingt. Davids Totenklage über den verlorenen Buddy Jonathan, der ihm am nächsten von allen stand, und seine neue Funktion als König fallen schicksalhaft zusammen. Auch er wird irgendwann der alte tote König sein…

Ja und das Volk feiert den neuen König wie den alten, intrigiert gegen die Obrigkeit oder wird auf dem Schlachtfeld aufgerieben. Da fließt Blut, viel Blut auf der Bühne, Hermann Nitsch hätte seine Freude gehabt. Dass diese Menge an Theaterblut auch seine Tücken haben kann, wird beim Solovorhang evident. Da rutschen Akzeybek und vor allem Tittoto gefährlich an die Kante zum Orchestergraben, können sich aber noch rechtzeitig erfangen. Für diese abschüssige Rutschpartie wird man wohl eine Lösung finden müssen.

Über den Chor der Komischen Oper Berlin (Einstudierung David Cavelius) ist schon viel adäquat Positives geschrieben worden. In der kammermusikalischen Präzision und klanglichen Unverwechselbarkeit der Umsetzung der kunstvollen barocken Partitur schlägt dieser Chor ein weiteres Kapitel seiner Erfolgsgeschichte auf. Am meisten überrascht hat aber das Orchester der Komischen Oper Berlin, das unter der stilistisch akkuraten wie temperamentvollen musikalischen Leitung von David Bates an diesem Abend so klingt, als hätte es die letzten 30 Jahre nichts anderes getan als Alte Musik zu spielen.

Fazit: Ein szenisch wie musikalisch rundum beglückender Opernabend. Das kluge und zeitgemäße Konzept, Musiktheater spannend abseits tagespolitischer Banalitäten, optisch ästhetisch einfallsreich zu präsentieren und Witz und Humor nicht außen vor zu lassen, geht einmal mehr auf.

Weitere Vorstellungen gibt es am 30.5., am 1.6., am 4.5. und 10.6.

Dr. Ingobert Waltenberger

 

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