BERLIN / PELLÉAS ET MÉLISANDE, Komische Oper; 15.10. 2017 – Erste PREMIERE
in der Jubiläumssaison 70 Jahre Komische Oper Berlin
Copyright: Monika Rittershaus
Einen zwiespältiger Eindruck hat diese Koproduktion mit dem Nationaltheater Mannheim hinterlassen. Hausherr und Regisseur Barrie Kosky entzaubert das symbolistische Stück. Statt gedeckter Farben und Andeutungen im ungefähren Fahrwasser der Seele ist ein realistischer Reißer zu sehen. Konkrete Gewaltorgien und Blut bestimmen den Abend. Aus dem impressionistischen Juwel Debussys bastelt Kosky ein expressionistisch-technisches Spektakel, das tolle Spannungsmomente hat, sich insgesamt jedoch nicht recht zu einem runden überzeugenden Abend fügen will.
Kosky erinnert die psychologische Landschaft in Pelléas an Edgar Allan Poe. Der ansatzlose Wechsel zwischen Schrecken und Schönheit und die Verbindung zwischen beidem – manchmal innerhalb eines einzigen Taktes – faszinieren ihn. Deshalb bat er den Bühnenbildner Klaus Grünberg, eine klaustrophobische Welt mit diesem „Poe/Bacon-Gefühl“ zu entwerfen. Die handelnden Protagonisten sollen darin zu theatralen Skulpturen aus Körper, Licht und der Bewegung der Drehscheiben werden. Der Fokus soll völlig auf die Körper, den Text und die Musik gelenkt werden. Die extrem verkleinerte schwarze Bühne im schicken „Nespresso-Look“ sieht einem Puppentheater oder einer überdimensionierten Spieluhr nicht unähnlich und funktioniert wie das gute alte Gassentheater in vier hintereinander liegenden Ebenen. Wie Marionetten werden die Sänger auf den mechanischen Stegen hereingedreht, gegeneinander getrieben und am Ende so auch Melisande tot abtransportiert.
Kosky mathematisiert die Poesie des Stücks und der Musik, nimmt ihr alle märchenhafte Atmosphäre und Stimmung. Dafür bekommt der Zuseher eine nach etwas schwerfälligem Anfang packende Geschichte zu erleben, wo Eifersucht und Missverstehen, Lügen und dumpfes Begehren eine brutale Geometrie der Liebe begründen. Ich gebe Kosky schon recht, wenn er meint, die Sänger dürfen in der Musik auf keinen Fall wie in einer lauwarmen französischen Lauch-Kartoffel-Suppe baden. Er bevorzuge eine pikante Bouillabaisse, auf der das Bühnenpersonal einen Stepp tanzt. Dieser scheint allerdings in der konkreten Umsetzung eher mit Verdis Otello und der vordergründigen Grausamkeit in „Lady Macbeth von Mzensk“ zu tun zu haben als mit Debussys Oper.
Copyright: Monika Rittershaus
Die Protagonisten der Premiere sind allesamt hervorragende Singdarsteller, die selbstverständlich die Ideen des Regisseurs auf Punkt und Beistrich umsetzen können. Sie sind es, die aus den Schablonen Menschen aus Fleisch und Blut machen. In der klaustrophoben Versuchsanordnung einer nur wenige Quadratmeter ausmachenden Bühne entzünden Pelléas, Golaud und Mélisande ein Seelenfieber, das schlussendlich alle in ihren Strudel zieht und verschlingt. Eine unheilsame Dreiecksgeschichte im düsteren Allemonde: Günter Papendell als brutaler Golaud außer Rand und Band schrammt rein vom Stimmtyp und der Tessitura her, die ihm eindeutig zu tief liegt, knapp an einer Fehlbesetzung vorbei und ist doch die faszinierendste Bühnenfigur des Abends. Er verfügt über einen hellen Kavaliersbaiton, der besonders in der oberen Mittellage und der Höhe anspricht (was für ein Don Giovanni!). Von der Stimme her wäre er selbst eher ein Kandidat für den Pelléas. Die fehlende Tiefe kompensiert er mit einem bravourösen schauspielerischen Kammerstück. Ein getriebener und unsicherer Macho, der lieber die allernächsten Menschen umbringt, als die eigenen Komplexe und Projektionen zu hinterfragen. Dabei geht er bis an die Grenze des Erträglichen, wenn er Mélisande würgt und an den Haaren über die Bühne schleift, um die eigene erbärmlich zusammengeschusterte kümmerliche Wahrheit aus ihrem Mund erfahren zu wollen. Wie Otello im dritten Akt tritt er auf und windet sich in Aggressivität und Unbeherrschheit bis an den eigenen Zusammenbruch, nachdem er seinen Halbbruder Pelléas mit dem Ledergürtel erwürgt und die nach der Geburt bluttriefende nasse Mélisande so lange über den vermeintlichen Ehebruch inqiuisitioniert, bis diese als mitleidserregendes Symbol der geschundenen Natur, an der sich alle abarbeiten, stirbt. Nadja Mchantaf ist eine stimmlich ideale Mélisande. Sie singt und durchleidet das Schicksal der geheimnisvoll Geflohenen differenziert und ausdrucksstark. Unschuldigen Feencharakter besitzt diese Mélisande freilich nicht, sie ist eine mit allen Wassern gewaschene Verführerin und Opfer zugleich. Ihre Liebe gilt dem unschuldigen Pelléas, dem einzigen, der in dem Stück immer die Wahrheit sagt. Der Bariton Dominik Köninger singt diesen ungelenken schüchternen Verführten mit samtener Höhe und balsamischer Mittellage. Von der Figur bleibt er vor allem aufgrund der von ihm abverlangten eckigen Körpersprache blass.
Die kleineren Partien sind mit Jens Larsen als König Arkel, Nadine Weissmann als Genèviève und Samuli Taskinen als Arzt ordentlich besetzt. Gregor-Michael Hoffmann räumt als Yniold, Golauds Sohn aus erster Ehe, alle Sympathien des Publikums ab. Seine Szene mit Golaud, wo er dem vor Eifersucht glühenden Vater sagen soll, was Pelléas und Mélisande in Golauds Abwesenheit so sprechen und treiben, gehört zu den Höhepunkten der Aufführung.
Aus meiner Sicht gebührt die Palme des Abend aber dem Orchester der Komischen Oper Berlin und seinem neuen Chefdirigenten Jordan de Souza. In Österreich ist er als Dirigent bei den Bregenzer Festspiele (Carmen) bestens bekannt. Man kann de Souza nur beipflichten, wenn er konstatiert, dass die Musik förmlich aus dem Text sprießt und grünt, in einem Fließen, das alles ins Wanken bringt. „Debussy überführt Maeterlincks Drama in eine höhere Sphäre. Man hat das Gefühl, eine neue Galaxie zu betreten.“ So farbig ausdrucksstark und diszipliniert habe ich das Orchester der Komischen Oper selten gehört. Freilich legt auch er im Sinne des Konzepts weniger Wert auf verschleierte Pastelltöne, die Primärfarben dominieren. „Vieldeutigkeit, Unschärfe, eine Art Nebel, in der man das Wesentliche weniger klar erkennen als vielmehr erspüren kann“, sind de Souza zwar Programm, aber weniger angewandte Interpretation. Und dennoch ist seine Lesart so neu, einzigartig genial und fluoreszierend, dass alleine deshalb schon ein Hingehen lohnt. Es ist nicht schwierig, diesem jungen Dirigenten, der schon bald an der Covent Garden Opera und der MET dirigieren wird, eine große Zukunft vorauszusagen.
Am Ende der Vorstellung viel Applaus für die Sänger, den Dirigenten und das Orchetser, der Regisseur musste auch einige Buhs wegstecken. Mit Mikro bat Kosky das Publikum um Applaus für den in Russland inhaftierten Künstler Kirill Serebrennikow, der nach einem fulminanten Barbier von Sevilla 2020 wieder an der Komischen Oper arbeiten soll (Rake‘s Progress).
Copyright: Monika Rittershaus
Anmerkungen: Anlässlich der Premiere am 15.10 wurde auch eine Digitale Jubiläumsausstellung präsentiert. Jenseits von einer detaillierten Chronologie sollen die letzten 70 Jahre, deren Philosophie und die inhaltliche Ausrichtung des Hauses schlaglichtartig betrachtet werden. Die Ausstellung ist ab sofort auf der Website der Komischen Oper zu erkunden.
Die Premiere von Pelléas et Mélisande wurde über die Homepage live gestreamt. Gleichzeitig ist die Übertragung der Eröffnungsstream von www.OperaVision.eu. Das Portal baut auf dem Erfolg von The Opera Platform auf. Weitere geplante Streaming Termine in der Spielzeit 2017/18 sind Jaques Offenbachs Blaubart (Regie: Stefan Herheim) am 17. März 2018 sowie Georg Friedrich Händels Semel (Rgei: Laura Scozzi) am 12. Mai 2018.
Dr. Ingobert Waltenberger