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BERLIN/ Komische Oper: LA BOHÈME. Premiere

Barrie Koskys werktreuer Regiewurf erntet den uneingeschränkten Zuspruch des Publikums

28.01.2019 | Oper


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BERLIN / Komische Oper LA BOHÈME, Premiere 27.1.2019

Barrie Koskys werktreuer Regiewurf erntet den uneingeschränkten Zuspruch des Publikums

 

,Sind halt aso, die jungen Leut‘ Hofmannsthal

 

Ungetrübter Jubel nach einem rundum gelungenen Opernabend: Barrie Kosky liefert in seiner detailversessenen Inszenierung des morbid-pathetischen Jungkünstler-Musikdramas „La Bohème“ ganz große Oper in kammerspielerischer Präzision. Ihn interessieren in dieser auch für das tägliche Repertoire tauglichen Modellinszenierung das pralle Leben und der in die ungezwungene Ausgelassenheit hereinstürzende Tod. Diese  überschäumende, gleichermaßen in den Moment hineinlebende liebestolle als auch ungemein talentierte Pariser Jugend im Quartier Latin hat mit der harten Realität zu kämpfen, lebt aber auch den eigenen Traum voller Experimente. Es reicht nicht immer für etwas zu essen, zu heizen oder zu bechern, der Hunger nach dem nächsten Kick ist aber stets noch unbändiger als der knurrende Magen oder das im Winter frierende Händchen.

 

In der fünften Bohème-Inszenierung in der Geschichte der Komischen Oper Berlin wird italienisch gesungen. Chefregisseur Barrie Kosky siedelt das Stück als zeitlose Geschichte in einem abstrakt-historischen Paris um 1850 an, der Entstehungszeit der literarischen Vorlage von Henri Murger. „Die 1896 uraufgeführte Partitur schildert große Gesellschaftsbilder in realistischen Klangfarben, kontrastiert Großstadt-Ensembles mit Momenten zarter Innerlichkeit, die in überwältigenden Gefühlsausbrüchen zu einer bewegenden Allegorie der Kunst, des Lebens und seiner Flüchtigkeit werden“, resümiert die Komische Oper das zwischen Gänsehaut- Musik, genialer Instrumentierung, perfekten Proportionen und Tränendrüse schwankende Werk.

 

Rufus Didwiszus hat für den rohen Bühnenraum ein intimes, sparsames aber stimmungsvolles Setting entworfen. Eine Holzfalltür, ein gusseiserner Ofen samt Ofenrohr und Vorhang auf einem kleinen dreieckigen Podium genügen für die Intimität des ersten und vierten Aktes. 

 

Mitte des 19. Jahrhunderts entstand die Daguerreotypie. Der daraus resultierende visionäre Umbruch dieser Zeit ist auch bestimmendes ästhetisches Prinzip der Bühne. Durch die Chemikalien wurden die Abbildungen grobkörnig und verblassten schließlich. Genau diese Vergänglichkeit der bildlichen Erinnerung, ihre unmittelbare Sichtbarkeit passen perfekt zum Gedeihen und Sterben der Liebe in diesem Stück. In der rauschhaften, exzessiven, surrealen, lustvoll wie tragischen Welt des zweiten Aktes zwischen Jahrmarktgewusel und Walzerseligkeit im Café Momus tummelt sich – wie könnte es anders sein – ein Panoptikum an freakigen Typen der Marke Komische Oper (Kostüme Victoria Behr) , feiern und tanzen auf ihren persönlichen Vulkanen. Auf einer Drehbühne unter Laternen feiert die jeunesse dorée diesen exzessiven Rausch, stürzt sich in närrischen  Überschwang. Im dritten Akt begrenzt ein mit Parismotiv versehener Kulissenvorhang die leere Bühne. Aus einem Schlitz huschen die zwei Liebespaare – der Prager Laterna Magica ähnlich – auf die Bühne und liefern sich ihr verzweifeltes Gezänk. 

 

Die Personenregie ist es neben dem messerscharfen Herausarbeiten aller Details und Anweisungen in der Partitur – Kosky bezeichnet letztere als echte Requisitenchoreographien – die dem Abend so viel an Esprit, Impulsivität, aber auch Fragilität der in Unsicherheit und Tempo befangenen Protagonisten verleiht. Marcello ist in dieser Produktion ein früher Fotokünstler, der seine Modelle vor Prospekten postiert. Das ist aber auch schon die einzige Freiheit, die sich Kosky nimmt, der Rest ist wohltuende Werktreue. 

 

Als Mimi feiert das Ensemblemitglied der Komischen Oper Nadja Mchantaf ihr  Rollendebüt. Sie gestaltet ein feinfühliges Porträts einer jungen unbeschwerten, ja irgendwie alltäglichen Frau, die an Unbeständigkeit und Einsamkeit leidet und schließlich von der Tuberkulose dahingerafft wird. Welch unvergleichlicher Theatermoment, wie Mchantaf im dritten Akt mit dem scheuen Blick eines verletzten zarten Vögelchens  die Bühne betritt, zitternd vor Angst vor dem Ende der Liebe, des Lebens. In diesem Moment kippt die Handlung, aus dem kindischen und kindlichen Spiel wird bitterer Ernst. Stimmlich vermag sie mit samtigen Timbre sowohl ihre Emotionen zu Rodolfo in ausdrucksvolle Kantilenen zu packen als auch den existenziellen Aufschrei einer geschundenen Kreatur zu vermitteln. Ihr “Sono andati? Fingevo di dormire“ jagt mir noch in der Erinnerung eine Gänsehaut über den Rücken. Als kleine Einschränkung kann vermerkt werden, dass manche Phrase sicherlich noch geschmeidiger gestaltet, manche Höhe besser in die vokale Linie eingebunden werden könnte.  

 

In Sachen Ehrlichkeit und Direktheit des Gesangs steht ihr der lyrische Tenor Jonathan Tetelman in der Rolle des Rodolfo in nichts nach. Als fescher schwarzhaariger Latin Lover Typ erinnert er von der Energie, der vokalen Kraft, den metallischen Höhen, aber auch der Ungeschliffenheit des Vortrags her an den jungen José Cura.  Tetelman ist ein echtes Bühnentier, sein hundertprozentiger Einsatz und raumbeherrschendes Charisma sind beeindruckend. Sensibilität, Vorsicht und Rücksichtnahme sind seinem Rodolfo ebenso zu Eigen wie Impulsivität, Eifersucht und eine bestimmte existenzielle Verwirrtheit. Vokal könnte er noch daran arbeiten, die Stimme freier strömen zu lassen und aus den Höhen Druck herauszunehmen. Den Namen sollte man sich merken,  ihn werden wir sicherlich noch öfter hören.

 

Als Musetta und Marcello sind Vera-Lotte Böcker und Günter Papendell, beide ebenfalls aus dem Ensemble, zu erleben. Papendell  als unverzichtbarer Bestandteil der Kosky Truppe, ist wieder voll in Form. Mit seinem körnig markanten Bariton und großer Spielfreude führt er das Kleeblatt der Freunde an. Die hochattraktive Vera-Lotte Böcker begeistert mit einem makellosen Musette-Walzer. Stimmlich bietet sie die vollkommenste Leistung des Abends. Stupend in jeder Hinsicht.

 

Als veritable Entdeckung darf der junge ungarische Bariton Daniel Foki, Mitglied des Opernstudios der Komischen Oper, in der Rolle des Schaunard gelten. Hier rückt ein ganz großes Talent nach. Spontan erhielt er beim Solovorhang gemeinsam mit Frau Böcker den größten Applaus. Philippe Meierhöfer war ein die Vierbande komplettierender Colline. Christoph Späth als Alcindoro und Emil Lawecki als Parpignol agierten rollendeckend. 

 

Am Pult des Orchesters der Komischen Oper überzeugte mich erstmals der kanadische Kapellmeister Jordan de Souza. Kongruent zu den erzählerischen Qualitäten der Inszenierung arbeitet er die vielen kleinen rhythmischen und harmonischen Details sauber heraus. Die vielen Farben der genial instrumentierten Oper ließ de Souza wie Feuerwerkskörper aufploppen. Gewiss kann man sich La Bohème klanglich differenzierter und cremiger in den Streichern vorstellen. Im Gesamtpaket mit der Besetzung und der Regiearbeit ergab sich final ein stimmiges Ganzes. 

 

Die Komische Oper hat mit dieser Neu-Inszenierung eine alle Sinne reizende, optisch ansprechende Bohème im Repertoirebetrieb. Für Berlin ist diese „La Bohème“ derzeit die wohl beste und eindringlichste Opernempfehlung. Selbst Puccini hätte seine Freude daran. Am Ende war alles eitel Wonne, Jubel und Heiterkeit. Buhs gab es keine. Wofür auch? Hingehen und anschauen, wer dazu die Möglichkeit hat!

 

Anmerkung: Die heutige Premiere von „La Bohème“ ist eine Koproduktion mit dem Abu Dhabi Festival. Die Koproduktion von La Bohème ist der Auftakt der diesjährigen Serie internationaler Auftritte, die im Rahmen des Abu Dhabi Festivals in Europa stattfinden werden. 

 

Ingobert Waltenberger

 

 

 

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