Berlin/ Komische Oper: „JEWGENI ONEGIN“ von Pjotr I. Tschaikowski, eine zu Recht bejubelte Premiere, 31.01.2016
Asmik Grigorian als traurige Tatjana auf der Wildwiese. Foto Iko Freese l drama-berlin.de
Jubel bei einer Premiere an der Komischen Oper ist fast selbstverständlich geworden, doch an diesem Abend ist er voll verdient. Denn nun macht Chefregisseur Barrie Kosky überraschenderweise alles anders und überzeugt. Nach vielen Kapriolen lässt er „JEWGENI ONEGIN“ quasi vom Blatt spielen und erstmals dem Original entsprechend auf Russisch singen.
Auch nimmt er die tragischen Liebesgeschichten junger Menschen, die Tschaikowski nach Puschkins Bestseller musikalisch so wunderbar in Noten gefasst hat, durchaus ernst und gönnt ihnen die großen Gefühle. „Lyrische Szenen in drei Akten“ hat der Komponist sein Werk bescheiden genannt, und genau so läuft es hier Herz wärmend ab.
Folgerichtig agieren junge Künstler, angefangen vom GMD Henrik Nánási, der dem patenten Orchester des Hauses entsprechend lyrische und stürmisch aufbrausende Klänge entlockt. Jung sind auch die Sängerinnen und Sänger, und sie singen und spielen hervorragend. Die Ensemble-Mitglieder ebenso wie die Gäste. Typengenau und authentisch sind die Rollen besetzt, und mit Asmik Grigorian als Tatjana steht wirklich ein schönes empfindsames „Mädchen“ als strahlender Stern auf der Bühne.
Doch was heißt hier steht. Sie, manchmal nicht nur Leseratte, und noch mehr ihre fröhliche Schwester Olga (Karolina Gumos) tollen ausgelassen über die Wildwiese des Landgutes, umstanden von hohen Bäumen. Dieses softig-matte Grün, gefertigt in Sachsen auf historischen Webstühlen und teils in Handarbeit, ist der optische (und teure) Clou des von Rebecca Ringst geschaffenen Bühnenbildes. Da sich ein Teil dieser Wiese gelegentlich dreht, müssen die munter und versiert mitagierenden Chöre (einstudiert von David Cavelius) beim schwungvollen Walzer nicht nur das musikalische Gleichgewicht halten.
Zunächst atmet hier alles Natur und ländliche Dorffestfröhlichkeit in entsprechen Kostümen (von Klaus Bruns). Anfangs sehen wir Christiane Oertel als Larina (Gutsbesitzerin und Mutter der beiden Mädchen) zusammen mit der rundlichen Filippjewna (Margarita Nekrasova!) beim Marmeladekochen. Immer wieder stecken beide einen Finger ins rote Gemisch. Auch die beiden Mädchen, Olga öfter als Tatjana, huschen zum Schlecken vorbei. Später wird Tatjana ihren Liebesbrief in einem leeren Marmeladenglas an den Großstadttypen Onegin bringen lassen!
Während nun Aleš Briscein als Lenski – mit athletischer Jungbauernfigur – seiner Olga mit wohl klingendem Tenor poetisch seine Liebe von Kindheit an gesteht und dafür sofort Applaus erhält, bringt der zum Fest mitgebrachte Onegin bekanntlich bald alles aus dem friedlichen Lot. Eine neue Rolle für Günter Papendell, seit einiger Zeit der Mann für vieles an der Komischen Oper. Mit Schauspielkunst und deutlich gereiftem Bariton bewältigt er diese Herausforderung bestens und wird für die bereits mit dem goldenen Litauischen Ehrenkreuz gewürdigte Asmik Grigorian zum adäquaten Partner.
„Eigentlich ist es ihr Stück“, hat Kosky vorab geäußert, und genau das beweist Asmik mit ihrem jugendlich strahlenden Sopran, der von mädchenhaftem Bangen und aufkeimender Hoffnung bis zur plötzlichen Leidenschaft alles in schönster Klarheit ausdrücken kann. Es macht schon einen Unterschied an Glaubwürdigkeit, wenn eine junge, schon dermaßen perfekte Sängerin diese ausführliche Szene interpretiert und ihren Gefühlswirrwarr auch mit jedem Zittern der Finger erkennen lässt.
Dann das nervöse Warten auf Antwort, die Ahnung, eine Dummheit begangen zu haben, die oberlehrerhafte Zurückweisung durch Onegin, ihre Scham und Verzweiflung. Diese Szenen gehen unter die Haut, und der Beifall danach ist heftig.
Vor dem Ball wird noch geschwind Tatjanas Geburtstag gefeiert. Wie eine Verurteilte steht sie da mit einer Torte auf den Armen, ist zuletzt mit dem Riesending und ihrem großen Leid ganz allein. So eindringlich ist das selten zu sehen.
Danach der Ball auf dem Gutshof, Onegins perfider, aber kaum detailliert gezeigter Flirt mit Olga, die dem Charme des smarten Verführers ebenso erliegt. Doch Lenski ist hier kein Jammerlappen, rüde packt er die Leichtsinnige am Handgelenk. Schluss mit lustig.
Danach geht’s echt ans Eingemachte, zum morgendlichen Duell. „Wohin seid ihr entschwunden, ihr goldenen Tage meiner Jugend,“ singt, schon voller Todesahnung, Aleš Briscein. Ein weiterer Höhepunkt dieser Aufführung. Spätestens jetzt hat er die Herzen Publikums voll gewonnen.
Sturzbesoffen (und vielleicht typisch russisch) wankt Onegin verspätet zum Duell. Wieder ein neues Detail. Anrührend das letzte Duett der beiden Ex-Freunde, ehe sie Richtung Wald verschwinden. Das Duell wird nicht gezeigt, gut so. Die beiden Schüsse in der Ferne sagen alles, auch für Tatjana, die allein (ohne Olga!) herbeigeeilt ist. Ein blutbefleckter Onegin flüchtet von dannen.
Szenenwechsel im 3. Akt Jahre nach St. Petersburg. Schwungvoll gelingen Nánási und dem Orchester die beliebte Polonaise, der Auftakt zum Ball im Palais des Fürsten Gremin. Tatjana, nun seine Gemahlin, erscheint im langen, leuchtend roten Gewand. Gremins Bekenntnis seiner großen Liebe zu ihr, gemeinhin übersetzt mit „Ein jeder kennt die Lieb’ auf Erden..“ gilt als Hit der Oper. Diese Arie, gesungen von Alexey Antonov, hätte ich mir jedoch etwas kraftvoller und “schwärzer“ gewünscht. – In den übrigen Rollen Yakov Strizhak als Sekundant Zarezki und Christoph Späth als Franzose Triquet.
In dieser Inszenierung treffen sich Tatjana und Onegin zur letzten Aussprache nicht im Palast. Rigoros werden die Säulen und Wände auf offener Bühne weggetragen, vielleicht eine Metapher für die trotz des Luxus unbefriedigende Gegenwart. Denn da ist er wieder, der grüne Rasen ihrer Jugend. Da ist auch das Marmeladenglas, in dem nun der Brief des plötzlich hitzig verliebten Onegin steckt. (Welch eine Idee!).
Asmik Grigorian (Tatjana), Günter Papendell (Onegin), Foto Iko Freese l dama-berlin.de
In wahrhaft strömendem Regen bekennen sich beide zu ihrer Liebe. Doch Tatjana hat gelernt und lässt sich nicht erweichen. Ein gesanglicher Showdown großer Gefühle unter Schauern und zum Erschauern, mit allen Nuancen von Leidenschaft bis zum Verzicht. Wie ein begossener Pudel bleibt Onegin zurück, bejammert aber nur sein eigenes Schicksal.-
Zuletzt heftiger, lang anhaltender Applaus für alle, „natürlich“ auch fürs Regieteam.
Aleš Briscein sowie Asmik Grigorian und Günter Papendell, denen die letzten Emotionen noch deutlich anzumerken sind, ernten verdiente Bravos. Der „Onegin“ auch ein gesanglicher Höhepunkt des kleinen Hauses. Die Ausgaben für die teure Textilwiese werden sich wohl amortisieren, trotz stream unter http://www.theoperaplatform.eu/de.
Denn live und vor Ort ist so etwas allemal besser. Weitere Termine: 03., 06., 26. und 28. Februar, 03. und 12. März sowie am 06. Juli.
Ursula Wiegand