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BERLIN/ Komische Oper im Schillertheater: LE NOZZE DI FIGARO – Premiere

28.04.2024 | Oper international

BERLIN /Komische Oper im Schillertheater LE NOZZE DI FIGARO; PREMIERE; 27.4.2024

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Foto: Monika Rittershaus

Nachtgedanken; Kurzkritik

  • Kirill Serebrennikovs zweite Inszenierung des 2025 abgeschlossenen Da Ponte Mozart Opernzyklus.
  • Sein Motto: „Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass das Genre der Oper heute eine tiefgreifende Überarbeitung seitens der Regie und der Dramaturgie erfordert, wenn wir uns nicht nur mit der Rekonstruktion der Bedeutungen von vor 200 oder 300 Jahre beschäftigen wollen.“ Serebrennikov will künstlerische Wahrheit statt Konventionen mit faulen Kompromissen.
  • Anfängliche Slapstickcomedy entwickelt sich ab Ende des zweiten Akts zu einem brachial gewalttätigen psychedelischen Horrorthriller.
  • Thematisiert werden in das Gift von Macht und unendlicher sozialer Fallhöhe getunkte Liebesspielchen und Sexfantasien
  • Conte Almaviva als dekadent zynischer Oligarch mit Hang zu Bling Bling und sauteurer Gegenwartskunst samt einem stereotypen Puppy-Fetisch-Bodyguard im Schlepptau, der dem Chef schon mal die Finger lutscht.
  • Die Gräfin im Donatella Versace Look als bedauernswerte, den emotionalen und Sexansprüchen des brutalen Gatten nicht mehr genügendes Hassobjekt
  • Prinzip des Splittings: Cherubino (Schauspieler Georgy Kudrenko mit Gebärdensprache und Sexappeal) bekommt eine Cherubina (Sängerin Susan Zarrabi) zugeteilt. Das bremst den musikalischen Fluss, hält aber auch einen Theateraugenblick von Ewigkeitswert vor: Als Cherubin die Arie „Non so piu cosa son, cosa faccio“ singt, fegt ihr/sein Alter Ego in einem furiosen, allen erotischen Überdruck in ungeheure Lebenslust wandelnden Tanz über die Bühne.
  • Susanne raucht ständig und träumt vom sozialen Aufstieg, der sich nach häuslicher Spießigkeit sehnende Figaro interessiert sie längst nicht mehr.
  • Die Bühne ist in einen schäbig niedrigen Keller mit Spinden, Waschmaschinen, Werkzeug und Gerümpel und eine luftig sterile Bel Etage des Grafenpaars geteilt, wo Geld und Kunst in obszöner Kälte erstarren.
  • Serebrennikov fügt eine Reihe von stummen Figuren (allesamt großartig in ihren Rollen) hinzu: Susanne Bredehöft als „Die Alte Frau“ (Wäscherin), die schon mal beim Bügeln verächtlich auf die Wäsche von denen da oben spuckt, der Scherge des Grafen (hundehechelnd genial Nikita Kukushkin) und der junge Mann als Dämon, der bei der Vernissage im dritten Akt als Liveact schon mal die versammelten Gäste mit dem Messer abschlachtet (Nikita Elenev).
  • Es wird auffällig oft mit SMS kommuniziert und mit langen Messern gefuchtelt und es gibt Leucht-Textbänder mit der Kunstphilosophie des Regisseurs.
  • Serbrennikov hat massiv(st)e Eingriffe in Text (Rezitative) und die Musik vorgenommen. Beispiele: Zu Beginn des dritten Aktes gibt es erst einmal das Terzett aus Cosi fan tutte ‚Soave sia il vento‘ (gesungen von Gräfin, Susanna, Graf), sodann das Duett Giovanni-Zerlina „Là ci darem la mano“ aus dem Don Giovanni (gesungen von Graf und Susanna). Vor dem finalen „Perdono“ des Grafen lässt Serebrennikov die Zeit stehenbleiben und Ausschnitte aus einem Mozart-Streichquartett bei psychedelischer Beleuchtung spielen. Bartolos „La vendetta“ wird in den dritten Akt verschoben. Die Figur der Barbarina ist gestrichen, ihre Arie zu Beginn des vierten Akts wird von der Gräfin gesungen. Die Chöre werden von Solisten übernommen. Und so weiter und so fort
  • Und dennoch funktioniert die Inszenierung und der Abend als zwar brutales, ganz und gar nicht werktreues, aber grandios spannendes Theater über sexuelle Sehnsüchte (verkörpert von Cherubino), Identitätsverlust, dekadenten menschenverachtenden Reichtum und in ihren astronomischen Preisen pervers gehypte zeitgenössische als oberflächliche Standes- und Statussymbole.
  • Wir sehen und hören eine Oper nach Ideen von „Le nozze die figaro“, teils exzentrisch überladen, teils in ihrer Radikalität atemberaubend ratlos und betroffen machend; auf gut Wienerisch könnte man sagen: was zum Kiefeln nach der Art von „Wir stehen selbst enttäuscht und sehen betroffen / Den Vorhang zu und alle Fragen offen.“
  • Orchestral ist die Sache trocken und ziemlich sachlich geraten (Dirigent James Gaffigan), sängerisch herrscht bis auf Ausnahmen (der stimmgewaltige Figaro des Tommaso Bares, als Graf überzeugt der edle Kavaliersbariton des Hubert Zapior, der Bartolo des Tijl Faveyts) gediegenes Mittelmaß. Susanna (Penny Sofroniadou) klingt teils scharf, aber dafür stets dramatischer als die Gräfin (Nadja Mchantaf), Cherubina (Susan Zarrabi), Marcelina (Karolina Gumos) und Basilio (Johannes Dunz) agieren rollendeckend.
  • Reaktion des Publikums: Weder übertriebenes Bravogeheul noch vehemente Ablehnung, kaum Buhs.
  • Was zum echt Aufregen wird es nächstes Jahr im „Don Giovanni“ (Premiere 27.4.2025) geben: da ist der junge brasilianische Sopranist Bruno de Sá als Elvira angesetzt
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    Foto: Monika Rittershaus
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    Foto: Monika Rittershaus

Dr. Ingobert Waltenberger

 

Schauen Sie sich LE NOZZE DI FIGARO (Ausschnitte) auf Youtube an

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Zum Video etwa 6 Minuten 

 

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