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BERLIN / Komische Oper im Schillertheater CHICAGO, PREMIERE; 28.10.2023. Jubel für Barrie Koskys und Otto Pichlers opulente Revueshow

29.10.2023 | Operette/Musical

BERLIN / Komische Oper im Schillertheater CHICAGO, PREMIERE; 28.10.2023

Jubel für Barrie Koskys und Otto Pichlers opulente Revueshow

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Katharine Mehrling: Foto: Barbara Braun

Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die durchtriebenste Männerkillerin im ganzen Land? Eine wahre Geschichte aus dem Chicago der 1920-er Jahre um zwei konkurrierende Cabaret-Sängerinnen, die aus Beziehungsfrust kurzerhand ihre Bettgenossen erschossen hatten, diente der Journalistin und Gerichtsreporterin Maurine Dallas Watkins als Vorlage für das Theaterstück „Chicago“. 1926 am Broadway gespielt, kam im folgenden Jahr noch ein Stummfilm dazu.

Co-Autor, Choreograf und Originalregisseur Bob Fosse, Songwriter Fred Ebb und der Komponjst John Kander haben daraus ein sogenanntes Nummern Musical–Vaudeville gebastelt, das als monströs-ironischer, die ganze Show-Branche sanft auf den Arm nehmender Zickenkrieg im Frauengefängnis und später im Gerichtssaal genügend Stoff für jazzigen Orchesterzund, spektakuläre Showacts, Glitter- und Lichtorgien, nicht zu vergessen frivole Travestien bietet.

Die pailletten-glamourösen Brettldiven Roxie Hart und Velma Kelly, beides Starlett-machiavellische Rampenluder, haben eines gemeinsam: Sie mögen es so gar nicht, von Männern hintergangen und betrogen zu werden. Die eine erschießt den umtriebigen Liebhaber (spielt, wie es ihr gerade passt, mit den Gefühlen des Noch-Ehemanns Amos und täuscht medial aufmerksamkeitssteigernd und prozesstaktisch eine Schwangerschaft vor), die andere erledigt ihre denselben Mann aufs Kreuz legende Co-Sängerin und Schwester in flagranti gleich mit.

Noch weniger mögen sie es, wenn jemand versucht, ihnen Ruhm und Publicity abspenstig zu machen. Da geht es schon mal rund, wenn die Alkoholdealerin und „Für die Zeit danach Impresaria“, im profanen Beruf Gefängniswärterin Mama Morton ihre Reviere verteidigt und „Staranwalt“ Billy Flynn sein Windfähnchen nach dem eigenen Geschäfts-Süppchen ausrichtet. Klar ist auch die Journalistin Mary Sunshine immer genau dort, wo der Aufmerksamkeitspegel die beste Quote erwarten lässt. Genau das ereignet sich, als eine Upperclass-Ananas-Plantagenerbin exakt zum Zeitpunkt von Roxies Freispruch mit drei Morden alle Aufmerksamkeit auf sich zieht. Vorbei der Rummel, der Star ist so rasch begraben wie er gehypt wurde.

Solch Niederlage kann nur noch durch ein beinschleuderndes und stimmenseliges, die Freiheit der Liebe segnendes Frauenduett pariert werden. Gesagt, getan. Aus den besten Feindinnen werden notgedrungen beste Freundinnen. Wenn auch nur für ein paar Takte. Was tut man nicht alles, um in der ersten Reihe zu stehen oder in den Schlagzeilen zu landen. Oder: Nur die meisten Likes und Klicks zählen in einer Narzissmus und egomane Scheininszenierungen skrupellos bedienenden Medienwelt.

 Barrie Kosky und sein Co-Regisseur und Choreograph Otto Pichler werfen sich in dieser (laut September bis Dezember Vorschau) Co-Produktion mit der Wiener Volksoper in ihrer Inszenierung mit beachtlicher Frau-, Mann-, Orchester-, Chor- und Ballettstärke in die Seile. Kosky ortet „Chicago“ als zynisch, ironisch und pessimistisch, er sieht es als ein leichtfüßiges amerika-, kapitalismus- und rechtssystemkritisches Stück, in dem zwei Mörderinnen am Ende triumphieren. Sein Motto für die Berliner Neuproduktion im Sinne der Kurt Weill’schen Sicht auf „Die Dreigroschenoper“ als „Farce mit Musik“: „Wir müssen den Schmutz zurück in das Stück bringen. Es darf nicht alles so poliert und sauber und einfach sein. Da muss ein bisschen Staub und Dreck auf die Bühne und auf die Nummern.“

In der Realität ist es ein sehr schickes und glamourös hollywood-taugliches Ambiente geworden, das Bühnenbildner Michael Levine auf die breite Bühne des Ausweichquartiers der Komischen Oper im Schillertheater gewuchtet hat. In mehreren sich nach hinten verjüngenden variablen Prospekten aus Gitterstahl und 6.500 Glühlampen sind sowohl die Revuenummern, das Luxus-Frauenkittchen bzw. die auf einem weiß beleuchteten erhobenen Rund installierte Gerichtsszene furios gut aufgehoben. Die Frisuren und Kostüme im Erotik-Look der 20-er Jahre (Victoria Behr) bieten die moussierend engen Hüllen für all das Qui pro Quo der Figuren im Lebenspoker um Geld und Berühmtheit, Glanz und Gloria, Eifersucht und Neid, am Ende um nichts anders als um sex and crime. Besonderen Effekt machen die geifernden Rote-Lippenköpfe der Geschworenen und des Prozesspublikums.  

Katharine Mehrling ist die nach Aufmerksamkeit gierende, in ihrem außerehelichen Liebesleben impulsive Vorstadt-Tingeltangel-Nachtclub-Sängerin Roxie Hart. Als eitle, naiv-gelegenheitsschlaue, rasch das Getriebe von medialer Präsenz und Freispruch kapierende Killerin kann sie all ihr imponierend darstellerisches und sängerisches Können in die Waagschale werfen. Köstlich und anrührend zugleich ist es, wie sie mit einem Schuss Lolitaschmollen blondvulgär über die Bühne stapft, statt der nicht vorhandenen 5000 Dollar Staranwaltsgage ihren Körper anbietet, aufgeblasen durch die Finten des Anwalts sich als große Chefin geriert und den „Ruhm“ genauso schnell verliert, wie er gekommen ist. Denn eines ist sicher: Der Tod durch Erhängen steht im Raum, falls die Geschworenen die Pistolenheldin als schuldig erkennen sollten.

Ivan Turšić soll als vielfach gehörnter, biederes graues Mäuschen Ehegespons Amos die Kastanien für Roxie aus dem Feuer holen und macht die Komödie um vorgetäuschte Liebe, Schwangerschaft und Scheidung bereitwillig mit, nicht wissend, wenn er schon wieder aufs Kreuz gelegt wird. Mulmig könnte einem werden, als der sich dauerschnäuzende Looser von Kindesbeinen an einsam sein Cellophanlied anstimmt.

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Ruth Bauer-Kvam.Foto: Barbara Baun

Als sprachlich charmanter Wienimport bietet Ruth Brauer-Kvam in der Rolle des Variétéstars Velma Kelly artistisch-tänzerisch (Spagat und Rad inklusive) wie schauspielerisch ganz große Klasse. Schon ihre flotte Auftrittsnummer „All That Jazz“ mit rotgefiederter Tanzschar als spektakulärer Schleppe gibt das Tempo und die Kadenz des Folgenden vor. Brauer-Kvams Velma reüssiert zudem wie ihre Co-Streiterin um den besten Platz im Rampenlicht Katharine Mehrling als Roxie mit vielen gebrochenen Zwischentönen, durchsetzt perfekt abspulende Showtime mit menschlichem Zögern und Innehalten, bringt ein wenig Wärme ins kalt abgekartete Spiel.

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Jörn- Felix Alt und Ensemble. Foto: Barbara Braun

Letzteres beherrscht der brillante Jörn-Felix Alt als schleimig glatter Anwalt Billy Flynn in fast schon erschreckender Intensität. Charismatisch, unwiderstehlich attraktiv, durchtrieben bis in den letzten Zipfel der opportunistischen Seele, zieht dieser Billy alle intriganten Fäden mit einer Theater-Bravour sondergleichen: Mephisto und Verführer, tenoraler Einschmeichler und knallharter Businessman, das alles hat Jörn-Felix Alt im kleinen Finger. Seine großen Auftritte mit Ensemble „All I Care About“ und „Razzle Dazzle“ werden zu glänzenden Höhepunkten der Aufführung.

Andreja Schneider darf als blau kostümierte Mama Morton mit 5 Sterne Hotel-Schnapswagerl im Schlepptau die mit allen Wassern gewaschene Überglucke für die eingesperrten Frauen mimen. Hagen Matzeit als penetrante Klatschreporterin Mary Sunshine chargiert schrill und ohrenbetäubend scharf in den Höhen.

Die deutsche Fassung von Erika Gesell und Helmut Baumann ist Schwäche und Stärke der Aufführung zugleich, je nachdem von welchem Standpunkt aus betrachtet. Die englische Sprache ist für dieses Stück jedenfalls die beste Variante. Baumann, der Chicago 1977 im Hamburger Thalia Theater als Deutsche Erstaufführung herausgebracht hat, schlägt stückgerecht einen vulgären Underdogslang an. Das hört sich dann mal so an: „Ich muss pullern“ schludert Roxie nach absolviertem Schuss, Mama Morton Lieblingsspruch „Darauf kannst du einen fahren lassen“ klingt halt wirklich irgendwie peinlich, ist nicht Fleisch noch Fisch. Vor allem das überschicke, coole Bühnendesign und die Las Vegas tauglichen Tanzeinlagen wollen so gar nicht zu dieser Schnauze passen.

Denn ein, wenn nicht das Highlight in der Inszenierung sind sicherlich die einfallsreichen und spektakulären Tanzeinlagen des Otto Pichler, diesmal als Choreograph und Co-Regisseur annonciert. Was an Ideen genau von ihm und was von Barrie Kosky stammt, wissen wir nicht. Aber mir scheint, diesmal kommt der Humor in der Bewegungsregie als auch der Personenführung subtiler und fein differenzierter zur Geltung als bei anderen vergleichbaren Produktionen dieses Erfolgsteams. Vor allem die sechs Tänzer (Lorenzo Soragni, Michael Fernandez, Adrii Zubchevskyi, Shane Dickson, Benjamin Gericke und Ivan Dubinin) wissen virtuos artistische Brillanz mit anzüglicher Geschmeidigkeit, Step mit Burlesque und augenzwinkernder Ironie wunderbar zu verbinden.

Für die musikalische Seite zeichnet Adam Benzwi verantwortlich. Gemeinsam mit dem stilistisch allseits versierten Orchester der Komischen Oper Berlin ziehen sie eine schmissige und musikalisch fetzige Show ab, swingen in Mambo und Tango, grätschen in Blues und Jazz. Die Orchesterarrangements wurden von der Hamburger Produktion 1977 übernommen.

Berlin hat sie wieder, die Komische Oper, wie sie „leibt und lebt“, geliebt und bejubelt als glitzernde Showbühne und erotische Revue, deftige Comedy und ein bestimmtes Lebensgefühl zelebrierender Stadtzirkus. Dass dabei die scharfe Gesellschaftskritik und der Reflexionsstoff dieses zu Recht so erfolgreichen Musicals ziemlich auf der Strecke bleibt, ist eine andere Sache.

Dr. Ingobert Waltenberger

 

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