BERLIN /Komische Oper HAMLET – Ambroise Thomas‘ fünkaktiger Shakespeare-Verschnitt in einer psychologisch eindringlich gearbeiteten Inszenierung von Nadja Loschky; Premiere, 16.4.2023
Hamlets Himmelfahrt
Foto: Monika Rittershaus
Da steht er am Schluss auf einer Glocke und entschwindet gen Bühnenhimmel, der arme Hamlet, und beklagt als frisch proklamierter König seine ins Grab gestürzte Seele. Nadja Loschky, Regisseurin und Intendantin des Musiktheaters am Theater Bielefeld, hat sich für den ersten Pariser Schluss entschieden. Erst ein Jahr später, in London, sollte Hamlet wie bei Shakespeare, am Schluss selber sterben dürfen. Vielleicht lautet die Botschaft der Machtergreifung Hamlets: Ja, sie werden weitergehen, all die Taten, fleischlich, blutig, unnatürlich, zufällige Gerichte, blinde Morde, wie Horatio am Schluss des Schauspiels der Welt verkündet, warum all dies geschah.
Thomas’ „Hamlet“, ein drame lyrique als Hybrid zwischen Grand Opéra und Opera comique auf die Bühne zu bringen, ist alles andere als einfach, geschieht doch in den beiden ersten Akten so gut wie nichts, außer dass wir von den Hintergründen des Todes des Königs und der erkalteten Liebe des Helden zu Ophélia erfahren.
Loschky lässt in einem als viktorianisches Stiegenhaus umgemodelten Schloss Helsingör (Einheits-Bühnenbild Etienne Pluss) gleich zu Beginn die Totengräber den Hofnarren Yorick ausbuddeln, der nach Absingen des elisabethanischen Narrenlieds aus „Was ihr Wollt“ wiedererstanden die ganze Oper hindurch als Alter Ego, Schatten, Gegenstimme und quirlig eigensinniger Kasperl die Szene aufmischt.
Das ist sozusagen der dramaturgische Joker der Inszenierung, gerade weil Kjell Brutscheidt, ein äußerst charismatischer junger Schauspieler, auf der Bühne steht, der mit Hamlet den revolutionären Gegenpol zur erstarrten, korrupt-kriminellen Hofgesellschaft bildet. So gelingt es Loschky – verdichtet durch darstellerisch gewandte bzw. Tänzer-Doubles von Claudius, Gertrude, Hamlet, Ophélie und dem Geist – etwas von der Urgewalt des Shakespeareschen Kosmos zurückzugewinnen und den Schwerpunkt von der repräsentativen Grand Opera mit all den monumentalen höfischen Festen, Trinkliedern und leerem Pomp hin zu den Abgründen eines psychologisch fein gearbeiteten Kammerstücks zu lenken.
Das fügt sich exzellent in das von Jules Barber und Michel Carré ganz seit „Robert le Diable“ nach französischem Geschmack bevorzugte, auf „Hamlet“ übertragene Vierecksmodell: Hamlet, Ophélie, Gertrude und Claudius beherrschen weitgehend die Szene, wobei sich die Handlung auf die Rache Hamlets und das Drama der Vereinsamung der Ophélia, in der Oper ganz ein Geschöpf des 19. Jahrhunderts, konzentriert.
Die Regie geht noch einen Schritt weiter und zieht Hamlet ins Zentrum einer gespenstischen Perspektive, als seine Wahrnehmung der Familie und des Hofes die Realität aufzulösen scheint. So stürmen er und Yorick am Ende des zweiten Aktes nach der die Wahrheit des Giftmordes an König enthüllenden Pantomime mit ihren Hacken drauflos und bringen all den Dreck hinter den Tapeten, der glatten Fassade zum Vorschein, den Totenstaub einer verrotteten und faulenden Welt.
Kämpft Hamlet so gegen Verdrängung und Lüge an, verfällt Ophélie, von Hamlets Mutter Gertrude benutzt, dem Grund des Verhaltens Hamlets nachzuspüren, von höfischem Gehorsam und dem Verlust des Freundes in die Enge getrieben, dem Wahnsinn.
Aber alle Konzepte der Welt taugen im Universum des romantischen Belcantos und der erratischen Koloraturen zu nichts, wenn nicht die geeigneten Sängerdarsteller auf der Bühne stehen. Und hier hat der Besetzungsstab der Oper ein kleines Wunder vollbracht. Mit dem 25 Jahre jungen britischen lyrischen Bariton Huw Montague Rendall als blondlockigem Hamlet und der bravourösen amerikanischen Koloratursopranistin Liv Redpath als Ophélie stehen zwei junge Sänger auf der Bühne, denen man nicht nur ihre Rollen abnimmt, sondern die auch vokal viel zu bieten haben.
Foto: Monika Rittershaus
Huw Montague Rendall, Sohn des britischen Opernsängerehepaars Diana Montague und David Rendall, ist ein Bild von einem Hamlet. Mit prächtig timbriertem lyrischem höhensicherem Bariton ausgestattet, kreiert er ein von liedhafter Einfühlung bis dramatisch sein Leid in höchsten Lagen herausschreiendes Rollenportrait des vom Geist seines Vaters zur Rache angestachelten Solipsisten. Sein einziger ehrlicher Gefährte ist der in Glitter und Halskrause gewandete imaginierte Hofnarr. Hamlets ariose Soli („Être ou ne Pas être“, „“Comme une pâle fleur“) als auch die vielen Ensembleszenen, insbesondere die nur durch das Dazwischenfunken des Geistes nicht tödlich endende Auseinandersetzung mit der Königin (dritter Akt) und das hochdramatische Finale des fünften Akts weisen ihn als hochmusikalischen klugen musikalischen Gestalter als auch passioniert draufgängerischen Darsteller aus.
Liv Redpath, die 2022 Lucia in Los Angeles und Sophie in München war, ist längst kein Geheimtipp mehr. Was an dieser Sängerin besonders fasziniert, ist die technische Perfektion ihres Luxussoprans, mit dem sie kleine Fiorituren und flinke Koloraturen ebenso (stil)sicher zu gestalten vermag wie wunderbar auf dem Atem floatende Legatopassagen ätherisch leicht schweben zu lassen. Magisch strömten ihre letzten Worte „Doute de la lumière, doute du soleil, mais jamais de mon amour! Jamais!“ nach der heftig beklatschten Wahnsinnsarie in den Raum, bevor die verlorene Seele von drei kopflosen Herren im Anzug in die Edgar Wallace Krimis beschwörenden tödlichen Nebel geleitet wird.
Die schwere und stimmlich für einen Mezzo wahrlich herausfordernde Rolle der Gertrude ist mit Karolina Gumos aus dem Haus mit Anstand besetzt. Sie schlägt sich tapfer und gewinnt nach einem verhaltenen Beginn im Laufe des Abends auch stimmlich an Profil. Das Publikum weiß es ihr zu danken. Dem Claudio des angenehm timbrierten belgischen Basses Tijl Faveyts fehlt es dann aber doch an der nötigen Tiefe, um zu überzeugen.
Von den kleineren Rollen ragen der sichere Tenor des José Simerilla Romero als Ophélies Bruder Laertes, der virile Frederic Jost als Horatio und Johannes Dunz als Marcellus stimmlich als auch darstellerisch profiliert heraus. Jens Larsen poltert rau als Geist des Königs durch die Szene, Stephen Bronk bleibt als königlicher Oberkämmerer Polonius und Mitwisser des Mordkomplotts blass. Ferhat Baday und Ferdinand Keller sind die beiden rollendeckend melonenbehüteten Totengräber.
Der Chor der Komischen Oper Berlin (Einstudierung: Jean-Christophe Charron) absolviert seine Auftritte in gewohnter Professionalität. Marie Jacquot leitet das Orchester der Komischen Oper detailverliebt und in den großen Grand Opera Tableaus (Marsch und Chor im ersten Akt, zweite Szene, zweiter Akt, Trauermarsch und Chor) rhythmisch präzise mit der gebotenen Verve. In den ersten beiden Akten habe ich die großen Spannungsbögen, den fluiden Strom in der Musik vermisst.
Ein kleines aber feines Ballett gibt es auch: Ophélie träumt während zunehmenden Wahnsinnsverfall von einer idyllischen glücklichen Hochzeit mit Hamlet. In der Choreographie von Thomas Wilhelm tanzen verliebt romantisch Lorenzo Soragni und Ana Dordevic.
Die Komische Oper hat sich wie schon kurz zuvor die Pariser Opera Bastille auf das Abenteuer der Belebung dieser musikalisch nicht lückenlos spannenden Grand Opera eingelassen. Die Inszenierung punktet mit einer durchdachten Personenregie, während die Szene und die bis auf Yorick, Hamlet und Ophélie in Weinrot-Einheitsfarbe wenig einfallsreich gehaltenen Kostüme spieltauglich, aber stilistisch unentschieden ausfällt. Die musikalische Seite fällt vor allem durch die Besetzung der beiden Hauptrollen, die es mit den besten historischen Vorbildern aufnehmen können, spektakulär aus. Die roten Rosen beim Vorhang waren verdient.
Dr. Ingobert Waltenberger