BERLIN / Komische Oper HÄNSEL UND GRETEL – Premiere; 25.1.2025
Bunt kindertaugliche Märchenshow, surreal überzuckert
Alma Sadé, Susan Zarrabi, Foto: Jan Windszus
Ein Zitat von Operettenstar, Filmschauspielerin und Regisseurin des Abends, Dagmar Manzel, möchte ich an den Anfang stellen: „Mir war klar, dass ich, wenn ich ein Märchen inszeniere, es in der Art erzählen möchte, wie ich meine Fantasie lebe. Und dazu gehören die fantastischen Bilder aus dem Voynich-Manuskript, das eudämonische Amulett von Horst Sagert und die Werke von Heidi Bucher, einer beeindruckenden Künstlerin, die mich schon seit Jahren inspiriert. Sehr geprägt haben mich natürlich auch die russischen Märchenfilme aus meiner Kindheit. Sonst wäre ich nie auf das Hexenhaus, das laufen kann, gekommen. Meine Kindheitserinnerungen, meine künstlerische und kindliche Fantasie sind ein riesengroßer Fundus, den ich über viele Jahre angesammelt habe und aus dem ich schöpfe.“
Neben den ausdrücklich erwähnten Vorbildern für Bühnenbild (Korbinian Schmidt) und Kostüme (Victoria Behr) gibt es in dem Gewusel auf der Bühne zwischen schwarzer Katze und Haus der Baba Jaga noch optische Anleihen aus der Wiener Schule des Phantastischen Realismus. Da wogen im Wald der Knusperhexe Rosina Leckermaul neonfarben grimassierende Bäume um das minigülden-staksende Hexenhäuschen und die anfangs in Omagrün und Strick gewandete erhebt sich bei ihrem „Hokuspokus Hexenschuss…bonus lokus, malus lokus“ etc. auf einmal mit weit gespreiztem, schwarzem Umhang und spitzem Hexenhut in die Lüfte wie einst die grüngesichtige Elphaba Thropp im Musical „Wicked“ es tat.
Jede Menge an Ballett ist im Spiel (Choreografie Christoph Jonas), das besonders in der Traum-Pantomime am Ende des zweiten Aktes, weiß getüllt, die vierzehn behütenden Engel darstellen darf. Wichtig war Dagmar Manzel bei ihrem Konzept überdies, dass von Anfang an Kinder auf der Bühne stehen, die als Tiere, Fabelwesen, kreischende Hexlein oder Hieronymus Bosch-Reminiszenzen auftreten und grosso modo statisch-lebende Bilder darstellen. Ein aufgewecktes himmlisches Kind (Wilma Hermine Rummel) führt gemeinsam mit einem Komödianten (Manni Laudenbach) stumm durch die Handlung.
Manzel lässt ein aus subjektiven Erlebnissen und Fantasien gebautes Farbenreich erstehen, in dem sich ständig etwas bewegt, die Natur beseelt erscheint und selbst der Erdbeerstrauch ganz allerliebst von einem Balletttänzer verkörpert wird.
Foto: Jan Windszus
Natürlich liegt die Stärke der Inszenierung außer dem kindlich-naiv-Bildlichen in einer detaillierten Personenregie. Da kann sich die Regisseurin auf das spielfreudige und fast durchgängig auch stimmlich äußerst fitte Ensemble verlassen:
Allen voran der Hänsel der erstaunlich jungenhaft kernigen, mezzosonoren Susan Zarrabi sowie die Gretel der frech quirligen Alma Sadé geben ein Traumpaar für diese Rollen der sich im Wald verirrten, sich aus eigener Klugheit und Tapferkeit befreienden Kinder ab.
Günter Papendell ist stimmlich einer der besten Besenbinder und sorgenden Väter, die ich kenne, während Ulrike Helzel als Mutter Gertrud in der Höhe unangenehm schrill klingt.
Daniel Kirch ist als Knusperhexe in jeglicher Hinsicht großartig. Mit seinem top Heldentenor und einer Riesenportion an unheimlichem Humor und augenzwinkerndem Aberwitz liefert er ein gar köstliches Porträt der Kuchenheil versprechenden Gruseltante ab.
Julia Schaffenrath ist ein sanfteres Sandmännchen als Taumännchen.
Der Kinderchor der Komischen Oper Berlin, in großer Besetzung angetreten, wird für seine hervorragende Leistung am Schluss („Wenn die Not aufs höchste steigt, Gott der Herr die Hand uns reicht.“) zu Recht vor allem vom jungen Teil des Publikums frenetisch gefeiert.
Damit ist aber noch nicht ganz Schluss mit der Aufführung. Denn es ist diesmal der sog. Dessauer Schluss zu hören. Das ist ein kurzer Marsch nach dem Vokalfinale, den Humperdinck eigens für eine Aufführung schrieb, die Wagnerwitwe Cosima 1894 in Dessau inszenierte.
Die Vorstellung endet, wie sie beginnt: Eine kleine Tür öffnet sich anfangs für die Märchenwelt, deren Protagonisten genau durch diese Tür, diesmal im Bühnenhintergrund, wieder entfleuchen. Dagmar Manzel: „Wir wollen erzählen, dass all die Wesen, so, wie sie vom Komödianten und dem himmlischen Kind eingeführt werden, auch wieder verschwinden. Dass alles in der Fantasie, im Kopf stattfindet.“
Das Orchester der Komischen Oper Berlin wurde von der Dirigentin Yi-Chen Lin expressiv und mit viel Sinn für den Farbenreichtum der Partitur geleitet. Dass die Streicher diesmal nicht sonderlich seidig klangen, mag der harten Akustik des Hauses geschuldet sein.
Am Ende, wie könnte es anders sein, viel uneingeschränkter Jubel für das Produktionsteam, Orchester, Chor als auch in unterschiedlicher Intensität für die Sängerinnen und Sänger des Abends. Sozial- bzw. Gesellschaftskritik jeglicher Art blieb bei dieser Aufführung außen vor. Die Produktion, da muss einer kein Prophet sein, wird sich lange Jahre im Repertoire halten und hoffentlich Heerscharen an Kindern entzücken.
Dr. Ingobert Waltenberger