Günther Papendell und Ensemble. Copyright: Iko Freese/ drama-berlin.jpg
BERLIN / Komische Oper: DIE NASE, 24.6.2018, zweite Aufführung der rundum gelungenen Inszenierung von Barrie Kosky
„Nase weg! So ein Schreck! Seh ich aus wie ein Clown?“ Kowaljow
Was macht jemand, dem nach durchzechter Nacht plötzlich die Nase fehlt? Er will eine Anzeige in der Zeitung aufgeben, zumindest in Shostakovich‘ erster Oper. Die Nase findet sich im Brotteig der Bäckerin wieder, wandelt wie ein Mäuschen durch die Stadt, sie steppt in elffacher Doppelung über die Bühne. Aber wirklich lustig ist ein Leben ohne Nase auch nicht. Ein Mann ohne Nase wird als „hässliche und abstoßende Kreatur betrachtet – wie Harry Potters finsterer Gegenspieler Lord Voldemor.“ Daher muss sie wieder her, auch um wieder flirten zu können, weil ohne Nase, nun ja, Sie wissen schon, die Rückschlüsse auf den „Johannes“. Bei Shostakovich gibt es ein Happy Ende, alles ist am Ende wieder an seinem Platz – comme il faut. Und alle sind‘s zufrieden.
Nach Sydney ist die „Die Nase“, die 2016 in London ihr Premiere feierte, nun in Berlin unter der durchaus deftigen, grell vitalen musikalischen Leitung des neuen lettischen Generalmusikdirektors Ainārs Rubiķis in einer deutschen Textfassung von Ulrich Lenz zu erleben. Mit der Wahl des absurd-witzigen und doch so bitterernsten und aktuellen Stückes hat Regisseur und Hausherr der Komischen Oper Barrie Koksy den Zeitgeist in seinem schmerzhaftesten Nerv getroffen. Wie der Zahnarzt mit dem Bohrer und einem von Lachgas betäubten Publikum. Es geht um Ur-Ängste, vorrangig um existentiellen Verlust und gefürchteten Bedeutungsschwund eines Individuums und wie sie sich in einer abstrusen Horrorvision samt einer irrealen Verschwörungstheorie manifestieren. Das Grundgefühl eines möglichem Verlusts von Identität und gesellschaftlicher Stellung macht sich doch gerade aktuell in den saturierten und alternden Industriegesellschaften breit.
Hat Shostakovich in der Erzählung von Nikolai Gogol wohl eine autobiographische Betroffenheit des von einem repressiven Regime künftig Bedrängten (im Jahr der Entstehung 1927 ergriff Diktator Stalin die Macht in der Sowjetunion) erahnt? Wer Näheres über das persönliche Schicksal und Ausweichstrategien dieses später „zum Abschuss“ freigegebenen Komponisten erfahren will, muss nur den Shostakovich-Roman „Der Lärm der Zeit“ von Julian Barnes lesen. Gogol hat „Die Nase“ jedenfalls als Satire auf das exzessiv hierarchische und bürokratische zaristische Regime geschrieben. Shostakovich hat als junger Studienabgänger nichts weniger im Auge gehabt, als ein neuartiges Musiktheater der jungen Sowjetunion zu schaffen.
Barrie Kosky hat das Stück entsprechend der schrillen literarischen Tragikomödie um den eitlen Kollegienassessor Platon Kusmitsch Kowaljow (der Bariton und Bühnentiger Günter Papendell fügt seinen pointierten Rollenporträts des Don Giovanni und Eugen Onegin ein weiteres großartiges und hochmemorables hinzu) der vom 21-jährigen Shostakovich dazu ersonnenen wild eklektizistischen Musik aus typisch russischen Elementen vermischt mit westlicher Avantgarde in logischer Folge seines bisherigen Erfolgsrezeptes als überzogene Satire in Szene gesetzt. Unter der Assistenz von Otto Pichler (Choreographie), Buki Shiff (Kostüme) sowie Klaus Grünberg (Bühnenbild und Licht) hat Kosky ein „absurd revueartiges Kaleidoskop der Eitelkeiten“, eine irrwitzige Achterbahnfahrt des hektischen Lebens unserer Städte, eine Bühne der Egomanen und Freaks, ein verruchtes Variété mit flotter Action entworfen. Es herrscht ein alles umfassender schräger Galgenhumor, von selbständig durch die Gegend spazierender kleiner Näschen bis hin zu einem Ballett von strapsenbewehrten langbärtigen Jungs in folklorebunten Tütüs.
Das Ensemblestück mit den vielen Rollen (wer fühlt sich da nicht an Janaceks Broucek erinnert?) besteht aus einer Hauptrolle und 77 Nebenrollen. Alle Partien sind aus dem Ensemble bestehend aus Mitgliedern und regelmäßigen Gästen der Komischen Oper Berlin sowie aus Gästen, die in die Rollen zurückkehren, die sie bereits in London übernommen haben, besetzt. Auf der einen Seite finde sich in Berlin beheimatete Künstler wie Jens Larsen, Mirka Wagner, Ivan Tursic oder Ursula Hesse von den Steinen, auf der anderen Seite die großartige Rosie Aldridge (alle drei ihr anvertrauten Rollen der Praskowja Ossipowna, die Verkäuferin und die Fernsehmoderatorin werden zu Kleinode darstellerischer Komik von karikierender Schärfe), Alexander Kravets sowie Alexander Lewis.
Die von Klaus Grünberg gestaltete Bühne ist durch eine auf- und zufahrbare kreisförmige Linse wie eine Filmblende satt eines Vorhangs geprägt. Dahinter findet sich ein leerer zylindrischer Raum, in dem wenige Requisiten wie Tische und Lampen ausreichen müssen. Das Hauptaugenmerk legt Kosky auf die Bewegung der Darsteller, die eine ganze Stadt erschaffen können. Das Konzept wirkt und wird besonders in der finalen Chorszene mit großen Getöse ausgespielt. Da hat Barrie Kosky wiederum etwas ganz Eigenes geschaffen – wie er selbst es ausdrückt – „eine schäbige russische Gogol-Shostakovich Dystopie.“ Es ist eine Traumwelt voller Chiffren und Andeutungen, verspieltem Splapstick und revuehafter Oberfläche, in die das Publikum versetzt wird. Dabei verrät Kosky seine Figuren in ihrem Eigenprofil nie, lässt sogar dem Widerling Kowaljow seine Würde und seinen Spaß.
Als Glücksfall für das Haus erweist sich das Engagement von Dirigent Ainārs Rubiķis. Gab es in der Ära Nanasi den einen oder andern musikalisch mauen Abend, so ist der Komischen Oper wieder mit Rubiķis ein kühner Fang wie einst mit Kirill Petrenko gelungen. Was der hochmusikalische Lette aus der närrischen Partitur herausholt, ist stupend. Kann das Stück als ein Vorbote des Surrealismus gesehen werden, so stellt die Musik zur „Nase“ eine komplexe Mischung aus Alban Bergs Wozzeck (die Barbier- und Arztszene scheinen direkt dem Vorbild entnommen), Mussorgskys Musikdramen sowie Rückgriffen auf Trivial- und Sakralmusik dar. Der lärmende Sound des 20. Jahrhunderts hat kaum je eine entsprechendere Umsetzung erfahren. Da gibt es wilde Blechbäserstakkati, Balalaikaklänge sowie das erste nur vom Schlagzeug (acht Musiker legen sich da voll rein) begleitete Musikstück. Jede Menge an aus heutiger Sicht erstklassiger „Filmmusik“ ist ebenso auszumachen. Rubiķis setzt all dies substanzreich, mit beißender rhythmischer Schärfe, voller Wissen um Parodie und deren instrumentale Entsprechung in Klang. Das Publikum jubelt am Ende zu Recht diesem Hexenmeister am Pult und dem Orchester der Komische Oper Berlin zu. Der Chor der Komischen Oper Berlin (Einstudierung David Cavelius) ist an diesem Abend in Höchstform. Die ohne Pause in 1h50 durchgespielte Oper im vollen Haus ist für Jung und Alt ein Vergnügen. Langanhaltende Ovationen wie bei einer Premiere. Volltreffer!
Koproduktion mit The Royal Opera House Covent Garden, der Opera Australia und dem Teatro Real, Madrid.
Weitere Termine: 28. und 30. Juni, 6. und 14. Juli 2018
Dr. Ingobert Waltenberger
Fotos: Copyright Iko Freese