Michael Nagy (Tamare), Peter Hoare (Alviano Salvaga), Copyright Iko Freese / drama-berlin.de
Berlin/ Komische Oper: „DIE GEZEICHNETEN“ von Franz Schreker, Premiere, 21.01.2018
Welch eine faszinierende Musik, klangreich und mit sofortiger Sogwirkung! Dirigent Stefan Soltesz und das Orchester der Komischen Oper Berlin fluten mit diesen verführerischen, spätromantischen Klängen den ganzen Saal. Gesungen wird ebenfalls vortrefflich.
Es geht um die Oper „Die Gezeichneten“ von Franz Schreker (1878-1934), der in Wien und später in Berlin lebte, komponierte und unterrichtete. Ein Erfolgreicher, dessen Opern in den 1920’er Jahren mehr Zuspruch fanden als die Werke von Richard Strauss.
1920 wurde er Direktor der Hochschule für Musik in Berlin, doch die Nazis verboten seine Werke und jagten ihn, den Juden, aus dem Amt. Infolgedessen gerieten Schrekers Opern lange Zeit in Vergessenheit, werden aber seit einigen Jahren wiederentdeckt. So auch in Berlin. Genau hundert Jahre nach der Uraufführung von „Die Gezeichneten“ in Frankfurt am Main, findet diese Oper nun Eingang in den Spielplan der Komischen Oper Berlin.
Schreker, der die meisten seiner Opern selbst textete, verlegte das Geschehen – vermutlich inspiriert von Sigmund Freud – in die Renaissance mit ihren Sex-Orgien und bricht damit ein Tabu. Neben der „normalen“ Liebesgier, geht es hier auch um den Missbrauch von Kindern, ein scheußliches und noch immer ein leider allgegenwärtiges Geschehen.
Als Regisseur nimmt sich Calixto Bieito diesem heiklen Thema an, jedoch mit erstaunlicher Vorsicht. Zwar lässt er – im Unterschied zu Schreker – auch kleine Jungs zu Opfern pädophiler Neigungen werden, hält sich jedoch insgesamt betrachtet merklich zurück. Die heftigen Buhs, mit denen vor allem er zuletzt abgestraft wird, treffen den Falschen. Nicht er hat das Libretto zu dieser Oper geschrieben. Und die beginnt eigentlich fast harmlos.
Zwei stehen auf der völlig schmucklosen Vorderbühne, ein Junge und Alviano Salvago, ein genuesischer Edelmann. Verlangend schaut der den Knaben an, doch schon umringen ihn lauter fröhliche Kindlein mit Luftballons in den Händen und bringen ihm in einem weißen Karton verpacktes Geschenk.
Eine winzige Jungenpuppe ist es, und die drückt Alviano sogleich an sein Herz und lässt sie während der gesamten drei Akte kaum einmal los. Ein Ersatzliebling für diesen liebesbedürftigen, steinreichen, aber missgebildeten Krüppel. Obwohl er mit Gold bezahlen wollte, hat ihn sogar eine Billig-Dirne abgewiesen.
Ein armer Kerl also trotz seiner Reichtümer, der einem leid tut, zumal er – der Tenor Peter Hoare – seine Verzweiflung so großartig heraus singt und seinen Kummer so deutlich, doch keineswegs übertrieben, erkennen lässt. Angenehmerweise hat man ihm keinen Buckel aufgeschnallt, und er muss auch nicht hinken. Verkrüppelt, so sieht es Bieito, ist seine Seele.
Auch für seine angeblichen Freunde aus Genuas „guter“ Gesellschaft, die in Saus und Braus leben und sich – aufgereiht vor der weißen Bühnentrennwand – sofort in die schöne Carlotta vergucken, ist er nur eine Lachnummer. Die aber, eine Schlanke im knappen schwarzen Minikleid (Kostüme: Ingo Krügler) weiß um ihre Macht über Männer.
Selbst der Kuss zwischen ihr – der Sopranistin Ausrine Stundyte – und ihrem Vater Lodovico Nardi, Podestà der Stadt Genua (Jens Larsen mit Volumen-Bass) – ist mehr als familiär. Sie schmiegt sich an seine Füße, eine Liebeshungrige ist auch sie.
Und außerdem eine Malerin, nach eigenen Worten eine Seelenmalerin. Und so finden sich zwei seelisch Gestörte, der armselige Krüppel und die von allen und besonders vom Grafen Andrae Vitelozzo Tamare begehrte Carlotta.
Mit einem Messer hackt sie Alvianos Profil energisch in die weiße Trennwand und erklärt ihm ihre Liebe. Unfassbar glücklich zertrümmert er die Wand und damit auch sein Seelengefängnis. Durch das Loch eilen beide von dannen. Eine höchst intensive Szene.
Ausrine Stundyte besingt die beiderseitige Verwandlung mit allen Nuancen, mit Power und auch einer gewissen Zärtlichkeit . Peter Hoare wächst hier über sich hinaus und kann den Umschwung in seinem Leben überzeugend und berührend ausdrücken.
Auch offenbart er der Geliebten sein finsteres Geheimnis, die Liebesgrotte Elyseum, hier ein kaltes modernes Gestänge nun auf voller Bühne (gestaltet von Rebecca Ringst). Ein echt eiskaltes Gefängnis für die aus Genua entführten Kinder, die von sexgierigen Männern zur Verfügung stehen müssen. Solche Handlungen werden jedoch nicht gezeigt. Vielmehr kommen die Kleinen alle mit großen bunten Plüsch- oder Plastiktieren auf die Bühne. Dazu rollt ein rotes Züglein mit Kindern gar harmlos-putzig im Kreis.
Alviano hat Carlotta hierin geführt, doch die trennt sich bereits von ihm Er hat ihr Modell gesessen, sie hat seine Seele gemalt, und das war’s für sie. Die hasst sich dafür, doch bald räkelt sie sich lüstern auf einem grünen Plüschteddy. Sie sehnt sich nach dem kraftvollen Beau Tamare, dem Leiter dieser Sexhölle, die Alviano eigentlich schließen und der Stadt schenken will. Das Volk feiert ihn deswegen, bis Herzog Antoniotto Adorno (Joachim Goltz) das schlimme Geheimnis dieser Grotte enthüllt.
Der Krüppel muss nun das heftige Liebesspiel von Tamare und Carlotta mitansehen. Michael Nagy, der hemmungslos Rücksichtslose, läuft hier stimmlich und darstellerisch zur Bestform auf, erweist sich als Macho ohne Empathie, der nur die Befriedigung seiner Triebe kennt und obendrein noch mit der Ermordung eines ärmlichen Rivalen protzt, worauf sich Carlotta auf ihn wirft und ihn erwürgt. Übrig bleibt der unglückliche Krüppel Alviano.
Bei all’ diesen körperlich-seelischen Gewaltexzessen und der entsprechend aufbrausenden Musik muss man/frau sich förmlich am Sessel festhalten.
Die weiteren Rollen: Guidobald Usodimare: Adrian Strooper, Menaldo Negroni: Ivan Turšić; Michelotto Cibo: Tom Erik Lie, Gonsalvo Fieschi: Johnathan McCullough, Julian Pinelli: Önay Köse, Paolo Calvi: Samuli Taskinen, Ginevra Scotti: Katarzyna Włodarczyk, Martuccia, Haushälterin bei Salvago: Christiane Oertel, Pietro: Christoph Späth, ein Mädchen: Mirka Wagner.
Zuletzt starker Beifall für den Dirigenten und die Chöre, einstudiert von David Cavelius plus Vocalconsort Berlin. Von den Interpreten erhalten die Stars Ausrine Stundyte, Michael Nagy und Peter Hoare verdientermaßen den heftigsten Applaus.
Ursula Wiegand
Weitere Aufführungen am 27. Januar, am 01., 10. und 18. Februar sowie am 11 Juli .