Alan Clayton (Candide) und Mitglieder desTanzensembles. Copyright: Monika Rittershaus
BERLIN / Komische Oper: CANDIDE, Premiere, 24.11.2018
Barry Koskys überwältigendes Geburtstagsgeschenk zu Leonard Bernsteins 100er
„Life is happiness indeed: Mares to ride and books to read. Though of noble birth I‘m not, I‘m delighted with my lot.“ Candide
Die Amüsierfabrik Komische Oper läuft wie geschmiert. Barry Koskys Vorliebe für Freaks und schräge Typen zündet auch bei dieser so heterogenen musikalischen Reiseerkundung mit pseudophilosophischer Attitüde aus der genialischen Feder Leonard Bernsteins. Allerdings wird diese so typische amerikanische Operette in einer hanebüchenen deutschen Übersetzung gespielt. Als Dr. Pangloss muss Franz Hawlata den weisen Travel-Agent mimen und verfängt sich mit ausgeprägtem wienerisch Meidlinger „L“ (klingt ähnlich wie das im Russischen ausgesprochene L) in den Untiefen der überlangen Textvorlage. Nach 3 1/2 Stunden alles Jubel, Trubel, Heiterkeit. In einer launigen Ansprache begrüßt Hausherr Kosky drei eigens aus New York zur Premiere angereiste Mitglieder der Familie Bernstein.
Im Detail
Die am 29. Oktober 1956 in Boston aus der Taufe gehobene weltumfassende Bernstein-Schöpfung „Candide“ nach der literarischen Vorlage von Voltaires satirisch-zynischer Novelle „Candide ou l‘Optimisme“ ist wahrlich ein „schizophrenes Biest“: Operette, Oper, Satire und Slapstick mit Herz und Kopf zugleich. Es gibt unzählige Versionen, ich persönlich bevorzuge die revidierte Fassung aus dem Jahr 1989, die auch Bernsteins eigener Einspielung für die Deutsche Grammophon zugrunde liegt. In der Komischen Oper hat man sich für die Bearbeitung von John Caird aus dem Jahr 1999 entschieden, die weitere originale Texte von Voltaire aufnimmt. Auch gut, wäre da nicht jemand auf die Idee gekommen, den so köstlichen englischsprachigen Text in unsägliches Deutsch transferieren zu wollen. Der ehemalige „Ochs von Lerchenau“ vom Dienst Franz Hawlata als der den Bärenanteil des gesprochenen Wortes tragende Erzähler kommt denkbar schlecht über die Rampe, wozu noch ein wildes „Meidlingerisch“ beiträgt, das wahrscheinlich in Berlin eh keiner versteht.
„Warum passieren guten Menschen schlimme Sachen?“ ist eine Frage, auf die niemand eine Antwort weiß. Auch Bernstein und Kosky nicht. Also bleiben wir weiterhin in einer Grauzone aus Optimismus und Pessimismus gefangen, das Pendel den Zeitläuften sensibel anpassend. Voltaire und Bernstein schicken ihren sympathischen Helden Candide, unehelichen Sohn des Barons Thunder-Ten-Tronck, auf eine erkenntnisreiche Reise von Europa nach Südamerika und wieder retour. Er soll den Sinn seines Lebens finden. Zu diesem Zweck wird er Soldat in der bulgarischen Armee, muss so gegen die ehemalige Heimat kämpfen, findet sich in Holland als Bettler vor einer Kirche wieder, bevor er in Lissabon von der Inquisition aufgegriffen und ausgepeitscht wird. Von Spanien aus beschließen eine alte Frau, Candide, Kunigunde und Friends voller Optimismus, gemeinsam nach Paraguay zu gehen, um am Kampf gegen die Jesuiten teilzunehmen. Über weitere Stationen in Montevideo, dem goldreichen Eldorado und Surinam reist Candide mit dem übellaunigen Straßenkehrer Martin über Marseille nach Venedig. Von dort geht es in die karnischen Alpen (Kärnten?), wo die gesamte Gesellschaft sich in einem Bauernhof niederlässt: „Wir bau‘n ein Haus und pflanzen Mut, bis unser Garten blüht“.
Alan Clayton (Candide) und Mitglieder desTanzensembles. Copyright: Monika Rittershaus
Leonard Bernstein hat zur klanglichen Bebilderung der vielen exotischen Szenerien mit Geschick tief in die Kiste an historischen Vorlagen gegriffen, und eine sogenannte „Valentins -Karte“ an die europäische Musikgeschichte abgeschickt. Die schmissige Ouvertüre und der manisch depressive Koloratur-Arien Hit „Glitter and be gay“ (mit der alle Koloraturdiven von Gruberova bis Fleming und Dessay brillierten) sind weitgehend bekannt. In vielen anderen schillernden Nummern finden sich auch Einflüsse von Offenbach, Gounod, Copland, Bizet u.a. Dennoch kommt unterm Strich immer lupenreiner, allerbester Bernstein heraus, mit seinen rhythmischen Off-Beat Elementen, seiner Vorliebe für Quartverwandtschaften oder einfach für effektvolle Melodien. Die Partitur von „Candide“ ist sicherlich wesentlich reicher und interessanter als die weitaus bekanntere der ungefähr gleichzeitig entstandenen „West Side Story“, kommt aber ganz ohne Jazz-Anklänge und südamerikanische Folklore aus.
Barry Kosky greift in seiner routinierten Freakshow-Inszenierung, die Vergangenes und Gegenwart gekonnt amalgamiert, auf Altbewährtes zurück. Der Wiener Choreograph Otto Pichler darf einmal mehr sein funkensprühendes Feuerwerk an Bewegungs-Ideen steigen lassen. Rebecca Ringst stellt auf die leere Bühne wenige Aufbauten, wie ein Klassenzimmer, eine Pole-Dance Bühne oder ein Gefängnis. Die Eye-Catcher der Inszenierung gehen vielmehr von den rund 800 Kostümen aus, die Klaus Bruns in allen Stilen, Farbe und Materialien leuchten lässt. Von der bayerischen Krachledernen des Titelhelden, roten Soldatenuniformen, weißen Pierrots bis hin zum Glitterfummel der Ballerinos ist die Bandbreite groß. Die Lichtregie von Alessandro Carletti sorgt für manch magisch poetische Momente.
Dirigent Jordan de Souza leitet das Orchester der Komischen Oper Berlin mit beeindruckender Energie und vitalem Schwung. Sind zu Beginn noch manche Ecken, rhythmische Unebenheiten und allzu derbes Blech auszumachen, gewinnt das Orchester mit Fortschreiten des Abend an Form. Da fetzen dann die Tänze, beginnen die Ensembles zu glühen und Nuancen an Terrain zu gewinnen. Der von David Cavelius einstudierte Chor der Komische Oper erweist sich einmal mehr nicht nur als der beste Opernchor der Stadt, sondern auch als fabulöses Sammelsuriuum an Charaktertypen und somit perfekter Handlungsträger.
Das gute Sängerensemble wird angeführt vom englischen Tenor Allan Clayton in der Rolle des Candide. In Berlin noch in bester Erinnerung durch seine Mitwirkung in Händels „Semele“, übertrifft er in der enorm anspruchsvollen Partie des durch das Leben gebeutelten Unruhegeistes selbst höchste Erwartungen. Wie er sich opportunistisch durch die Büsche des Lebens schlägt, liebt, mordet, dazu singt, säuselt, auftrumpft und immer wieder vom Boden aufsteht, das ist gesanglich und schauspielerisch ein Bravourstück der Sonderklasse. Gäbe es einen Nobelpreis für echte, tief empfundene und schonungslos ehrliche Gesangskunst, er gebührte Allan Clayton für die Gestaltung dieser Rolle. Er allein ist es schon wert, diesen Abend zu sehen.
An seiner Seite kann die Kunigunde der Nicole Chevalier alle Facetten einer ebenfalls vom Schicksal hin- und hergeworfenen lebens- und liebeshungrigen Frau zeigen. Als Kunigunde in der Schule beobachtet, wie Pangloss Paquette (Maria Fiselier) in die Geheimnisse der Liebe einführt, möchte sie die gleichen Dinge mit Candide erforschen. Candide wird daraufhin vom standesdünkel-besessenen, dick ausgepolsterten Baron (Frank Baer) hinausgeschmissen und die Odyssee beginnt. Kundigunde muss als Prostituierte gleichermaßen einem reichen Juden (Ivan Turšić) als auch dem Großinquisitor (Dominik Köninger) zu Willen sein. Schließlich gelingt es, Kunigunde freizukaufen. Trotz der Heirat des Liebespaars will es kein so richtiges Happy End geben. Nicole Chevalier verfügt über einen lyrischen Sopran, beinahe die gesamte Partie mit allen Soli und Ensembleszenen gelingt ihr. Nur ausgerechnet die berühmte Bravour-Arie „Glitter and be gay“ (Gott sei Dank im englischen Original belassen) verschenkt Chevalier durch Zaghaftigkeit, gepiepste Koloraturen, wenig Tiefe und einen steif schrillen Spitzenton.
Anne Sophie von Otter ist mit der Rolle der „Alten Frau“ erfolgreich ins Charakterfach gewechselt. Kosky zeigt sie als lebenserfahrene, kämpferische Obdachlose mit Plastiksackerl und Einkaufswagen. Stimmlich frisch beisammen, vermag von Otter mit dem best verständlichsten Deutsch von allen zu überraschen. Vielleicht allzu vorsichtig führt sie ihren nach wie vor schönen Mezzo durch die Wellen, Berg und Tal der Geschichte.
Franz Hawlata bliebt als Voltaire und Dr. Pangloss blass. Diesem Reise Tour-Guide mit barocker Puderperücke mangelt es an deklamatorischer Kraft und rhetorischer Finesse. So werden die langen gesprochenen Moderationstexte zur eigentlichen Achillesferse der Aufführung. Da könnte mächtig gestrichen werden. In den wenigen gesungenen Passagen zeigt er, was er als Sänger noch und dazu erfreulich gut drauf hat.
Tom Eric Lee schießt als vom Leben frustrierte „Putze“ Martin den Vogel ab. in der beeindruckendsten und dichtesten Soloszene des Abends zeigt Lee, wie mit richtigem Timing, Sprachwitz und Selbstironie die unaussprechliche Tiefe des Lebens auf einmal greifbar wird. Unprätentiös, klar, mit blauem Lidschatten und Besen bewaffnet. Bravo.
Emil Lawecki gibt mit offenem Hemd einen schmierigen Cacambo. In andern Rollen sind Saskia Krispin (Baronin), Matthias Spenke (Hauptmann), Carsten Lau (Unteroffizier), Adrian Strooper (König von Eldorado) zu hören. Dominik Köninger ist als Kunigundes Bruder Maximlian, Großinquisitor, Pater Kommandant und Louis XiV. multipel im Einsatz.
Die Welt, wie sie ist, ist die einzige, die es gibt, und folglich auch die bestmögliche. Das gilt auch für die Komische Oper Berlin, die mit dieser Aufführung allen Einschränkungen zum Trotz wohl insgesamt einen valablen Beitrag zum 100. Geburtstag des Leonard Bernstein leistet. Schließlich darf das Berliner Publikum wie Candide seine Kundigunde am Schluss sein Herzblatt Barry Kosky samt Orchester, Chor und Ensemble wieder einmal fest in seine Arme schließen.
Weitere Aufführungen finden am 1., 12., 21., 31. Dezember, 10., 25. Jänner, 3. Februar, 27. März, 3. April und 30. Juni statt.
Dr. Ingobert Waltenberger