Jerry Bock: Anatevka, Komische Oper, Berlin, Besuchte Vorstellung: 06.01.2019
(36. Vorstellung seit der Premiere am 03.12.2017)
Die Komische Oper Berlin feierte ihren 70. Geburtstag in der Saison 2017/2018 unter anderem mit einer Neuinszenierung von Jerry Bocks „Anatevka“. Ihr Gründer, langjähriger Intendant und Chef-Regisseur Walter Felsenstein brachte die Tragödie des fiktiven Schtetls Anatevka am 23. Januar 1971 zur Premiere und diese Produktion wurde dann bis im Sommer 1988 in 506 Vorstellungen gezeigt. Die Produktion war beim Publikum äusserst beliebt und wurde rasch legendär. Für den gegenwärtigen Intendanten und Chef-Regisseur Barrie Kosky war klar, dass „Anatevka“ die Jubiläums-Produktion sein sollte, denn es werfe die gleichen Fragen auf wie das 70-jährige Jubiläum seines Hauses: Wie umgehen mit Traditionen?. „Denn Neues und Anderes entsteht stets auf der Basis von Altem und Bewährtem, auf dem Humus von Traditionen“. Oder wies Tevje im Stück sagt: Ohne Traditionen wäre unser Leben so unsicher wie ein Fiddler auf dem Dach.“
Barrie Kosky gelingt die Verknüpfung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufs Beste. Seine Inszenierung beginnt mit einem Jungen mit Roller und Bluetooth-Kopfhörer, über die er Musik unserer Zeit hört. Es ist, so das Programmheft, Tevjes Ururenkel, und er spielt das Anatevka-Motiv auf der Geige seines Vaters (mit grösster Ruhe und Sicherheit Maxim Bergeron). Nun entströmt dem einzelnen Schrank (vor einer den ganzen Hintergrund einnehmenden Schwarz-Weiss-Fotografie eines Waldstücks) in der Mitte der Bühne die Gesellschaft des Schtetl Anatevka und die Geschichte kann ihren Lauf nehmen. Bühnenbildner Rufus Didwiszus hat als Hintergrund die unscharfe Fotografie eines Waldes gewählt, den man, geprägt durch die Bilder aus dem Zweiten Weltkrieg, in den Weiten Russlands zu verorten glaubt. Für den ersten Teil, das Gesellschaftspanorama, hat Didwiszus für Kosky ein vom Anatevka-Song und dessen Frage „Was war Anatevka? Stuhl, Bett, Schrank?“ ein bühnenhohes Konstrukt aus Schränken und anderen Möbelstücken geschaffen, das wunderbar die enge Strukturen (nicht nur räumlich gesehen) des Schtetls andeutet. Im Zweiten Teil, wenn „Anatevka“ zum Kammerspiel wird, bleibt die Bühne bei Dauerschneefall leer.
Eng am Libretto erzählt Kosky nun die Geschichte vom Milchmann Tevje (Markus John), dessen Frau Golde (Dagmar Manzel) und ihren fünf Töchtern (Talya Liebermann, Alma Sadé, Maria Fiselier, Agathe Bollag und Laeticia Krüger). Der Zuschauer erlebt Freud und Leid des Alltagsleben im Schtetl und und Tevje übersetzt die grossen historischen und gesellschaftlichen Vorgänge seiner Zeit so, dass sie auch der mit Tevjes Zeit nicht (mehr so) vertraute Zuschauer versteht. Wie jeder Vater möchte Tevje – mit Hilfe der Heiratsvermittlerin Jente (Barbara Spitz) seinen Töchtern eine gute Partie verschaffen, aber wie so oft nehmen die Dinge einen anderen Lauf und die Auserwählten, der Schneider Mottel Kamozil (Johannes Dunz), Perchik (Kurosh Abbasi) und Fedja (Ivan Tursic) entsprechen so gar nicht den Vorstellungen des Vaters. Zeitel und Hodel fordern ihren ganz den Traditionen folgenden Vater heraus. Sein grosses Herz siegt jeweils. Chava, seine dritte Tochter, aber verstösst er, denn auch sein grosses Herz kennt Grenzen. Die Traditionen und den Glauben. Ein Christ als Mann für seine Tochter kommt für Tevje nicht in Frage. Zum Schluss bricht ein Pogrom über das Schtetl herein und seine Bewohner werden über den ganzen Erdball zerstreut. Das Stück lässt den Zuschauer, und das ist auch seine theatrale Qualität, den Verlust auf ganz menschliche Art spüren: es weht ein leichte Melancholie durch den Saal, und man denkt weiter, wie es Tevje und den Seinen wohl ergangen ist.
Die Komische Oper Berlin hat sich unter Intendant Barrie Kosky zu einem Zentrum für qualitativ hochstehende Operetten- und Musical-Inszenierungen entwickelt, was auch an diesem Abend wieder zu erleben und nachzuvollziehen war. Solisten, Chorsolisten, Tänzer (Choreographie von Otto Pichler) und Komparserie der Komischen Oper Berlin haben unter Leitung von Koen Schoots einen perfekten Abend geboten.
Leider liess das Auditorium jegliche Sensibilität für das Stück vermissen: Während dem Pogrom wie auch der grossen Szene von Tevje und Golde (Ist es Liebe?) wurde weiter gelacht und nachdem Ende kam rasch, viel zu rasch, das rhythmische „Wollt Ihr den totalen Krieg?“-Klatschen. Soll diese Gefühlslosigkeit und Geschichtsvergessenheit die Zukunft sein?
Ein bewegendes Stück in einer mustergültigen Umsetzung.
Weitere Aufführungen: 18.01.2019, 30.01.2019 und 07.02.2019.
Jan Krobot