Online Merker Logo

Die internationale Kulturplattform

BERLIN/Kammermusiksaal der Philharmonie: Daniel Reuss und der RIAS Kammerchor bringen „Baltische Seelen“ nach Berlin

18.11.2023 | Konzert/Liederabende

Berlin/ Kammermusiksaal der Philharmonie: Daniel Reuss und der RIAS Kammerchor bringen „Baltische Seelen“ nach Berlin, 17.11.2023

schu
Foto: Fabian Schellhorn

Wer dieses Konzert nicht erlebte, hat viel versäumt. Es ging zwar um zeitgenössische Werke aus Estland, doch die erschrecken zumeist nicht mit krassen Dissonanzen. Eher kommen sie im sangesfreudigen Estland aus Herz und Seele. Daher verbarg sich hinter dem Titel „Baltische Seelen“ keine November gemäße Trauerfeier. Alle drei Komponisten leben glücklicherweise noch.

Diese gute Nachricht wird noch durch eine weitere angereichert, über die sich ganz Estland freut: Die Universitätsstadt Tartu ist im kommenden Jahr eine der drei Kulturhauptstädte Europas und konnte schon im Oktober ihr reichhaltiges Programm veröffentlichen.

Andererseits hat sich der RIAS Kammerchor zu seinem diesjährigen 75. Jubiläum selbst ein besonderes Geburtstagsgeschenk gemacht. Gemeint ist diese Aufführung von a-Cappella-Werken dreier herausragender Komponisten Estlands.

Ihre Darbietung war bei Daniel Reuss, Chedirigent des RIAS Kammerchors von 2003-2006, in besten Händen. Der hat anschließend fünf Jahre lang den Estnischen Philharmonischen Kammerchor geleitet und kennt sich in Estnischer Musik und Baltischen Seelen bestens aus.

Mitgebracht hat er Kompositionen von Jüri Reinvere (geb. 1971), Erkki-Sven Tüür (geb. 1959) und vom nun 88jährigen Arvo Pärt, ohnehin einer der weltweit bekanntesten und höchst geschätzten Komponisten überhaupt. Sie alle vermitteln auf ihre Weise eine lebendige christliche Spiritualität. Der Text der Gesänge war in deutscher Übersetzung im Programmheft enthalten.

Den Anfang machte ein relativ kurzes Stück von Jüri Reinvere, geschaffen 2022 und gleichzeitig eine deutsche Erstaufführung mit dem Titel „Im Verborgenen“. Zumeist sanfte Klänge füllten den Kammermusiksaal. Mit einem eigenen Gedicht beschreibt Reinvere einen Weg, eine menschliche Pilgerreise, die letztlich zu Gott führen kann. Generell wünscht er sich, „dass die Menschen beim Hören meiner Musik emotional berührt sind… und dass es Musik ist, zu der sie Zutrauen fassen können“. Das ist wohl an diesem Abend gelungen.

Deutlich länger und farbenreicher ist dann das „Canticum Canticorum Caritatis“ von Erkki-Sven Türr, basierend auf eine Brief des Apostels Paulus an die Korinther, der aktiven Christen vermutlich bekannt ist. Alle guten Taten und Ehren nützen dem Menschen nicht, wenn sie keine Liebe beinhalten. „Für jetzt bleiben Glaube, Hoffnung und Liebe, diese drei, doch am größten unter ihnen ist die Liebe“, schrieb Paulus zuletzt. Davon scheint jedoch die jetzige Welt vielerorts meilenweit entfernt zu sein, sei hinzugefügt. Hoffentlich gibt diese gelungene musikalische Fassung eines rund 2.000jährigen Briefes den Zuhörenden etwas Hoffnung.

Zum absoluten Höhepunkt des Abends werden jedoch einige Auszüge aus dem berühmten „Kanon Pokajanen“ von Arvo Pärt. Der hochgeehrte Komponist, der zunächst auf den Spuren von Schostakowitsch und Schönbergs wandelte und bei der damaligen russischen Regierung in Ungnade fiel, wurde 1972 durch den Eintritt in die russisch-orthodoxe Kirche ein völlig anderer Mensch und Komponist.

Er nahm sich nun Bach, die Gregorianik und die Renaissance-Musik zum Vorbild. Der Dreiklang in Dur und Moll wurden sein Markenzeichen. 1980 zog er auf Druck der Regierung mit der Familie nach Wien, schon 1981 weiter nach Berlin. Erst 2008 kehrte er vollends ins wieder selbständig gewordene Estland zurück.

Arvo Pärts „Kanon Pokajanen“ ist ein Bußkanon, der die Fehler des Menschen und seine nachträgliche Reue intensiv thematisiert. Immer wieder bittet der Sünder um Gottes Erbarmen. Für heutige, nicht mehr gläubige Menschen wirken die gesungenen Worte dieses Dauer-Büßers vermutlich sonderbar. Doch diese schlichte, doch so beeindruckende Musik des tief religiösen Arvo Pärt zieht selbst junge Leute spürbar in ihren Bann. Die schreckliche Realität der Gegenwart rückt für kurze Zeit in den Hintergrund.

In einem im Programm abgedruckten Interview hält Dirigent Daniel Reuss diesen Kanon sogar für Arvo Pärts bestes Werk. Dieser Ansicht möchte die Autorin nicht unbedingt zustimmen. Auf alle Fälle ist dieser Bußkanon jedoch ein wundersames und tiefgehendes Werk mit weitgespanntem musikalischen Inhalt, der vom RIAS Kammerchor großartig dargeboten wird.

Die kräftigen tiefen Männerstimmen erinnern an den Gesang in russisch-orthodoxen Kirchen, und die Frauen singen so klar und rein, wie es in Estland bei den Gesangsfestivals zu hören ist. Die gehören – zusammen mit denen in Lettland und Litauen – zum unantastbaren UNESCO-Welterbe. Zuletzt noch ein doppeltes, schön ausschwingendes Amen. Das Publikum bejubelt nun heftig dieses Meisterwerk, das spürbar engagiert dargeboten wurde.   

Ursula Wiegand

 

Diese Seite drucken