Berlin / Haus der Berliner Festspiele: „MEGA ISRAEL“, Gastspiel Gauthier Dance//Dance Company Theaterhaus Stuttgart, Berliner Premiere 11.04.2019
Der große Saal im Haus der Berliner Festspiele ist rappelvoll, und mehr als die Hälfte sind jüngere Leute. Diejenigen, die im Januar 2018 das erste Berliner Gastspiel von Gauthier Dance//Dance Company Theaterhaus Stuttgart mit dem Stück „Nijinski“ erlebt haben, sind wieder da und haben vermutlich andere zum Mitkommen animiert.
Richtig so, denn es wird ein ebenso explosiver wie sinnlich-humorvoller Abend. Die drei Choreographien sind zwar sämtlich nicht neu, doch ihr Inhalt ist zeitlos. Bewährtes wurde für dieses zweite Gastspiel gewählt, und es funktioniert. Die ausgewogene Kombination von Athletik und Geschmeidigkeit, Gegen- und Miteinander, von Dynamik und Lässigkeit sowie von Ernst und Spaß scheint das Erfolgsrezept dieser jungen Truppe und ihres Chefs Eric Gauthier zu sein.
Der Kanadier – zuvor Solotänzer beim Stuttgarter Ballett, Choreograph und Musiker mit eigener Band – hat dieses Ensemble im Oktober 2007 gegründet und mit ihm einen Blitzstart hingelegt. Im Rekordtempo wurden die Tanztruppe international bekannt und geht auch viel auf Tournee. Offenbar besteht weltweit der Wunsch, perfekten zeitgenössischen Tanz zu erleben. Den bieten die Tänzerinnen und Tänzer mit jeder Faser ihrer durchtrainierten Körper.
Eric Gauthier (41), der noch kürzlich (wieder) getanzt hat, stellt nun mit Charme und Witz das Programm namens „Mega Israel“ vor, nicht ohne erstmal von seinen lustigen Erlebnissen bei einem Berliner Frisör zu erzählen und zu erwähnen, dass niemand von den 16 Tänzerinnen und Tänzern aus Israel stammt. Der Titel betrifft vielmehr die drei international hoch geschätzten Choreographen Hofesh Shechter, Sharon Eyal & Gai Behar sowie Ohad Naharin, deren Kreationen an diesem Abend gezeigt werden.
„Uprising“. Foto: Regina Brocke
Vor dem ersten Stück, „Uprising“ von Hofesh Shechter (auch verantwortlich für die Klangkomposition sowie für Bühne & Kostüme) warnt Gauthier schmunzelnd. Wo sieben Männer zusammen sind, sei immer was los, da könnte es gefährlich werden. Das beweist sogleich die schon 2006 erarbeitete, jedoch sehr gegenwartsnahe Choreographie.
Einer, dann zwei und bald alle sieben stürmen die Bühne, große und kleine Tänzer. Männer in T-Shirts und locker sitzenden Hosen, eigentlich ganz normale Typen, hier auf Socken (nicht barfuß) tanzend. Zu stampfendem Beat – elektronisch verzerrten Rock-Sounds, die Shechter, auch Profi-Schlagzeuger, selbst gefertigt hat – zucken und zittern sie zunächst. Doch aus den unsicher Wirkenden werden bald wilde Schlangenmenschen. Mitunter huschen sie wie große gefährliche Insekten über den Boden.
Kurze Momente von Zärtlichkeit oder möglicher Freundschaft enden schnell in Raufereien und explosiver Aggressivität, jeder will dominieren und sich als Mann verwirklichen. Es wird gerannt und über die leere Bühne gerollt. Faszinierend zu sehen, was die Sieben aus ihren fitten Körpern und Köpfen herausholen, welche einfallsreichen Biegungen, Drehungen, Sprünge und alles in rasantem Tempo.
Doch dieses urtypische männliche Kampfgehabe sollte auch nicht zu ernst genommen werden, scheint die Botschaft zu lauten. Zuletzt finden sie sich friedlich zusammen und tragen einen als Helden über die Bühne, einen fröhlichen Tänzer, der lustig ein kleines rotes Fähnchen schwenkt. Lacher im Publikum und frenetischer Beifall. Für mich, um es gleich zu sagen, das mitreißendste Stück dieses Abends.
„Killer Pig“. Foto: Regina Brocke
Frauen sind anders – das zeigten schon 2009 die beiden Partner-Choreographen Sharon Eyal und Gai Behar mit „Killer Pig“, das ihnen internationales Renommee bescherte. Für Gauthier Dance haben sie eine neue Fassung kreiert, wiederum mit sechs Tänzerinnen. Den Namen des Stückes kann sich selbst Gauthier nicht erklären. Vielleicht hinge der mit dem rosa Outfit zusammen, überlegt er bei der Einführung. Die fleischfarbenen Trikots, die die beiden Choreographen ersonnen haben, zeigen fast alles, erwecken vielleicht Begehrlichkeiten, doch getötet wird niemand.
Zu sehen ist ein Gruppentanz, teils auf der Stelle tretend, teils perfekt synchron schwingend. 30 Minuten lang und oft nur auf der Spitze, doch den Damen ist keine Anstrengung anzumerken. Sie tanzen neben-, vor- und hintereinander, in stets gleichem Rhythmus, lange Zeit auch ohne jeden Blick- oder Körperkontakt.
Aufrechte unnahbare Singles sind sie, die unbeugsam alleine durchs Leben gehen, selbstbewusst und voller Zurückhaltung gegenüber anderen. Erst zum Ende hin schmiegt sich eine kleine Tänzerin wie Hilfe suchend an den Rücken einer großen Kollegin. Schließlich wagen einige weitere vorsichtige Zärtlichkeiten. Eine insgesamt strenge Choreographie zur Musik von Ori Lichtik und der totale Kontrast zu den virilen Explosionen der vorherigen Männergruppe. Kräftiger Applaus ist der verdiente Lohn.
„Minus 16“. Foto: Regina Brocke
Ein Tänzer kann seinen Auftritt gar nicht abwarten und fasziniert schon während der Pause, allein auf der großen Bühne, mit einer unglaublich artistischen Performance. Ein überbeweglicher Alleskönner, der die Augen bannt. Es ist Maurus Gauthier, ein Schweizer Tanzwunder mit Wuschelkopf und kein Verwandter von Eric Gauthier. Tanz ist sein Leben, bekennt er selbst. Kann der überhaupt mal stillsitzen?
Jedenfalls nicht im dritten Stück „Minus 16“ von Ohad Naharin, geschaffen vom „Godfather“ des israelischen Tanzes, wie es Eric Gauthier ausdrückt. Zu erleben ist ein Extrakt aus Choreographien aus den 1990’er Jahren. Eine Mixtur, von Naharin zurechtgemacht für eine Uraufführung des Nederlands Dans Theaters im Jahr 1999, die bald Kult wurde.
Die Musik, zu der nun alle 16 Damen und Herren tanzen, reicht von Vivaldi über Chopin bis zum Cha-Cha-Cha. Wohlgefälliges, nichts Krasses ist zu hören. Zunächst sitzen die Protagonisten in dunklen Anzügen und Hüten im Halbkreis auf Stühlen und singen mit voller Kehle orientalisch angehauchte Weisen. Maurus Gauthier fällt derweil immer wieder vom Stuhl auf den Boden.
Bald werden die Sänger lebhaft und werfen ihre Kleidung in die Bühnenmitte, um nun unbeschwert und wild tanzend das Leben zu genießen. Ein schöner Pas de deux zu Antonio Vivaldis „Stabat Mater“ ist auch zu bewundern, doch das Eigentliche kommt im zweiten Teil.
Plötzlich sind alle wieder fein gekleidet und suchen sich ihre die Tanzpartner/innen aus dem Publikum aus. Mehr oder minder geschickt, aber mit Humor machen die Auserwählten mit und werden von den Profis liebevoll geführt.
Dank der superben Gauthier-Crew, die offensichtlich selbst Spaß an dieser Variante hat, gelingt diese Mitmach-Aktion ohne die vielfach üblichen Peinlichkeiten. Dieser Schluss trifft passt auch zum sozialen Engagement von Gauthier, der mit seinem Team sogar in Schulen und Altersheimen auftritt, um auch denen, die nicht in die Vorstellungen kommen können, fürs Tanzen zu begeistern.
Das Berliner Publikum zeigt sich ebenfalls vollauf begeistert, statt „Minus 16“ ist hier alles Plus. Es feiert Gauthier und seine Mann-Frauschaft lautstark und will diese hinreißend tanzenden Glücksbringer kaum von der Bühne lassen.
Ursula Wiegand
Weitere Vorstellungen im Haus der Berliner Festspiele bis zum 14. April einschließlich.