Berlin / Haus der Berliner Festspiele: bejubeltes Gastspiel von NDT 2, Premiere, 11.10. 2018
Zweimal in jüngerer Zeit – 2015 und 2017 – war das Nederlands Dans Theater (NDT) im Haus der Berliner Festspiele zu Gast, und die Tanzfans stürmten die Vorstellungen. Nun ist erstmals seit 18 Jahren (!) der Nachwuchs gekommen, das Nederlands Dans Theater 2 (NDT 2), und erneut herrscht Andrang.
Das Bedürfnis nach zeitgenössischem Tanz, der in den letzten Jahren – abgesehen von Sasha Waltz – in Berlin ziemlich vernachlässigt wurde, ist offensichtlich groß, speziell beim jüngeren Publikum. Das ist an diesem Premierenabend deutlich in der Mehrzahl und will nun „die jungen Wilden“ erleben. Alle vier dargebotenen Stücke wurden speziell für das NDT 2 entwickelt und sind für Berlin Neuland.
„mutual comfort“. Copyright: Jori Jan Bos
Doch so wild, wie vorab kundgetan und erwartet, sind diese bestens geschulten Tänzerinnen und Tänzer – alle zwischen 18 und 21 Jahren jung – an diesem Abend nicht unbedingt. Vor allem das erste, 2015 geschaffene Stück „mutual comfort“ des 45jährigen Rumänen Edward Clug – sein Debütwerk beim NDT – ist überwiegend leise, besinnlich, manchmal leicht ironisch, oft cool und insgesamt wunderschön.
Als Choreograf sei Clug daran interessiert, die individuelle Erfahrung des Tänzers hervorzuheben, indem er diese immer wieder aktualisiert. Dabei lehne sich sein Werk an die Betonung einer persönlichen Erfahrung an, die sich aus dem Schaffensprozess ergibt, wird dazu erklärt.
Wir sehen u.a. zwei Frauen und zwei Männer, und vor allem bei den Damen fällt auf, wie leicht und ungemein geschmeidig sie trotz aller plötzlichen Zuckungen tanzen und welche Bewegungsmuster sie allein und mit ihren Partnern entwickeln. Der Tanz, vor allem der beiden Frauen, wird zu einem faszinierenden Ganzkörpergeschehen. Es lohnt sich genau hinzuschauen, um alle Finessen wahrzunehmen, die kleinen Gesten, manch ein flüchtiges Berühren, eine Kopf- oder Schulterdrehung, fern aller klassischen Ballett-Routine.
Zunächst wird auf der leeren Bühne nach der Musik von Milko Lazar – PErpeTuumOVIA eine Tänzerin im weißen Pullover von einem Tänzer umgarnt. Danach bewegen sich zwei auf dem Boden liegende Männer kongruent. Doch bald konkurrieren die beiden um eine Frau im roten Pulli, während die erste hilflos zuschaut. Als der Ex sich ihr wieder nähert, reagiert sie kühl, die gegenseitige Behaglichkeit (= mutual comfort) bleibt bestenfalls eine Kurzgeschichte, und das auch nur hin und wieder. Tanztechnisch ist es für mich das modernste der vier Stücke.
Die beiden Hauschoreograf/innen Sol León & Paul Lightfoot sind mit zwei Werken vertreten, zunächst mit „Sad Case“ von 1998, das zum Markenzeichen und Grundpfeiler geworden ist. Der Titel trügt absichtlich, ist es doch ein fröhliches Stück, geschaffen als Sol León im siebten Monat schwanger war, und sich beide in Mexiko auf ihr Töchterchen freuten. Getanzt wird daher zur mexikanischen Mambo-Musik.
Zu diesen feurigen Rhythmen können sich nun die heutigen Interpreten/innen oft auch witzig austoben. „Hut ab“, falls die hoch schwangere Sol das damals selbst getanzt hat, denn dazu gehört viel Kondition. „sad case“ ist ein Stück, das gute Laune verbreitet, aber ein Kind seiner Entstehungszeit und steht dem klassischen Ballett noch relativ nahe.
„Sublte Dust“: Copyright: Rahi Rezvani
Auch das letzte Werk, „Subtle Dust“, haben Sol León & Paul Lightfoot kreiert, und zwar im März 2018. Es ist ihre neueste Arbeit für NDT 2 und außerdem eine Deutschland-Premiere. Dabei haben sie die Musik von J. S. Bach wieder aufgegriffen, die ihre früheren Kreationen weitgehend geprägt hat.
Beide erkennen in Bach, so heißt es, das Konzept des Wandels, sei es in körperlicher, emotioneller oder spiritueller Weise. „Subtle Dust“ soll die jungen, talentierten Künstler/innen des NDT 2 bei ihrer Entwicklung und bei den Veränderungen des Lebens unterstützen. Es ist ein lebendiges Stück für virtuose Körper.
Ein Mann tanzt im langen, schwingenden Mantel seinen womöglich mönchischen Weg, während die übrigen die Lust am Leben ausprobieren. Per saldo sollen die jungen Künstler/innen zusammen mit Bach wachsen, in allen sich verändernden Situationen schwimmen können und sich auch wieder mit der Natur verbinden, wünscht sich das Choreografenpaar. Nach 28 Minuten, am Ende des Stücks, schauen tatsächlich alle gemeinsam mit dem Mantelträger in eine grüne Szenerie.
„Wir sagen uns Dunkles“. Copyright: Rahi Rezvani
Auffälligerweise wirkt jedoch „Wir sagen uns Dunkles“ (von 2017) des NDT-Associate Choreographer Marco Goecke neuzeitlicher, zumindest für mich. „Mein Gefühl gehört heute mehr den Tänzern, mehr als früher vielleicht, sagte Marco Goecke nach dieser Kreation, und das ist deutlich zu spüren.
Jung und frech, gut und böse treffen hier aufeinander und erzeugen Spannung. Von der Nähe wechseln zwei Tänzer in den Konflikt, da liegt schon mal Gewalt in der Luft, ohne Realität zu werden. Ein modernes, nach der Musik von Schubert, Schnittke und Placebo expressiv getanztes Stück, und das in mit rasselnden Federn bestückten langen Hosen. Auf diese Weise wirken die Interpreten oft wie elegante große Vögel, gelegentlich auch wie Hühner auf dem Hof. Ein witziges, einfallsreiches Werk, das sofort zündet.
Nach allen vier Stücken tost der Beifall, wird gejuchst und gekiekst. Noch bis zum 14. Oktober will und wird das NDT 2 die Tanzfans in Berlin begeistern.
Ursula Wiegand