BERLIN / DAS FLOSS DER MEDUSA – Komische Oper am Tempelhof, Hangar 1; 28.9.2023
Hans Werner Henzes gesellschaftskritisches, Che Guevara gewidmetes Oratorio vulgare e militare in einer monumental-realistischen Bühnenadaption von Tobias Kratzer
Foto-Copyright: Jaro Suffner
„Wenn der Mensch diesen Grund erreicht hat, ist ihm nichts mehr begreiflich zu machen; seine Instinkte werden die eines Raubtiers, und man muss sich darauf gefasst machen, sich gegen ihn verteidigen zu müssen, wie man sich gegen ein beleidigtes wildes Tier verteidigen würde.“ Alexandre Dumas
Als „Menschlichkeitsbefragung“ charakterisiert das Produktionsteam der Komischen Oper Berlin Henzes im politischen Umfeld der 68-er geschaffenes Oratorium „Das Floß der Medusa“. Entstanden ist es als Auftragswerk des NDR und sorgte wegen der politischen Botschaft und Verherrlichung eines marxistischen Revolutionärs für einen großen Theaterskandal. Wenn man sich heute anschaut, was aus der Revolution in Kuba geworden ist und wie es der Bevölkerung dort geht, wird wohl niemand mehr den letzten von Charon gesprochenen Satz „Die Überlebenden aber kehrten in die Welt zurück: belehrt von Wirklichkeit, fiebernd, sie umzustürzen.“ als Freiheitshymne unkommentiert feiern wollen.
Basierend auf einer wortgewaltig-bildreichen Dichtung von Ernst Schnabel nach einer historisch wahren Schiffskatastrophe kommentiert der nach dem Fährmann am Totenfluss benannte Erzähler Charon – und das ist heute aktueller denn je – die Geschichte einer um die knappen Ressourcen Wasser, Nahrung und Raum kämpfenden Gruppe von Menschen. Im „Floß der Medusa“ handelt es sich dabei hauptsächlich um französische Militärs, die sich aufgemacht hatten, an die Briten verlorenes Land wieder zurückzuerobern. Ein darwinistischer Kampf ums nackte Überleben entbrannte, als dessen einziger Sieger sich der Tod erwies.
„154 Menschen treiben auf hoher See einer ungewissen Zukunft entgegen. Kaum Platz und zu wenig Nahrung bietet das dürftige Floß der havarierten Medusa. Um sich selbst zu retten, haben die Offiziere und Kommandanten auf dem seetauglicheren Rettungsboot das Tau zum Floß längst gekappt.“ 13 Tage lang, wo sich die Menschen an Bord mit Mord, Totschlag, Kannibalismus und sonstigen Monstrositäten gegenseitig übertrafen, trieb das Floß auf dem Meer.
Im Hangar 1 des ehemaligen Tempelhofer Flughafens, in dessen Umfeld nun wieder genutzte Container zur Unterbringung von Flüchtlingen das Stadtbild prägen, hat Regisseur Tobias Kratzer seinen Bühnenbildner Rainer Sellmaier ein riesiges Planschbecken bauen lassen, flankiert von zwei steil aufsteigenden Tribünen. Ein für die Ausmaße der musikalisch chorischen Urgewalt als auch des Stücks symbolistischer Verortung als Zwischenreich zwischen Lebenden und Toten ein idealer Schauplatz. Ein Flughafen, und insbesondere der historisch im einst geteilten Berlin so besondere „Tempelhofer“ stehen bei Ankunft und Abflug für jenen delikaten Übergang, der Fakten schafft und emotional so schwer zu fassen ist. Mit diesem Schauplatz, in seinen Dimensionen und der symbolischen Wirkung gigantisch, gelang der Komischen Oper, die während der Jahre der Sanierung nicht nur das Schillertheater als Ausweichquartier nutzt, sondern in Berlin (noch) sichtbarer werden will, ein medialer und künstlerischer Paukenschlag. Allerdings nicht ohne Disharmonien in Bezug auf die Kosten der Produktion.
Der spektakuläre, 6.000 m² große Schauplatz, der sich am Beispiel des für sein „Le Radeau de La Méduse“ berühmten französischen Historienmalers Théodore Géricault für infernale Tableaus eignet, bot genügend Platz für 83 Choristen, über 40 Statisten, 20 Knabenchor-Sängern, 82 Orchestermitgliedern und die Solisten. Aber um auf den finanziellen Aufwand zurückzukommen: Warum die Regie bei einem Werk, das im Kern und ins Heute gedacht vom brutalen Krieg um Ressourcen handelt, einen so verschwenderischen, die Realität spiegelnden „Ozean“ in den Raum wuchten muss, obgleich es eine Folie als Meer auch getan hätte, ist mir nicht einsichtig. Denn die andere brennende, an der sozialpolitischen Stellung des Einzelnen sich entzündende Frage, wer im Falle einer Natur- oder hausgemachten Katastrophe, bei extremer Knappheit an Nahrung etc. überlebt bzw. sich retten kann, darüber ließe sich unabhängig, ob es sich um eine Demokratie oder ein autokratisches Regime handelt, ziemlich zielgenau spekulieren.
Grosso modo lässt Kratzer die Geschichte des Auflaufens der Fregatte auf den Sandbänken von Arguin, und vor allem des Schicksals des bald vom Rettungsschiff gekappten Floßes mit den in der Unendlichkeit der Wasser treibenden, nicht Privilegierten anhand der Berichte der historisch Überlebenden, des Landvermessers Alexandre Corréard und des Wundarztes im Seedienst Henri Savigny, deren Texte Eingang in das Libretto gefunden haben, linear mit mathematischer Präzision ablaufen, wobei er den gesamten Raum des Hangars perspektivisch vielschichtig in die Bühnenaktion mit einbezieht. Ihm geht es primär um die „Verlorenheit des Menschen“ als universellen Stoff, was der Produktion über eine etwaige Tagesaktualität hinaus ihre packende Qualität verdankt.
Das Erschütternde der sich wieder und wieder ins Hirn brennenden Erkenntnis ist, was Menschen Menschen in Extremsituationen an Bestialischem antun können. Ob bei dieser Ausgangslage am Ende des Oratoriums Henzes Hoffnung aufkommen kann, dann – so Kratzer – weil es zeigt, dass es sich zu leben und für sein eigenes Stück Leben zu kämpfen lohnt. Das ist nicht sonderlich viel, weil in der Regel selbstverständlich. Ich empfinde das Stück, abgesehen vom utopischen letzten Satz im Wesentlichen, als zivilisatorisch pessimistisch. „Das Glück der Welt trägt einen Federhut.“
Was den Abend über das bloße Spektakel hinaus und viele andere hinaus hebt und so außergewöhnlich macht, ist die musikalische Umsetzung der Partitur, eines faszinierenden Klassikers der Moderne. Dirigent Titus Engel und dem meisterlichen, groß besetzten Orchester der Komischen Oper mit drei- bis vierfachen Holzbläsern, vierfachen Blechbläsern, Ophikleide, Wagnertuben, Beat Orgel, Saxophonen, E-Gitarre und Riesenschlagzeug gelangen eine schaurig schöne Realisierung der an Techniken der chromatischen Zwölftonmusik, gespenstisch sich reibender Klangflächen, des Melodrams, der aus barocker Tradition kommenden Chöre und durchaus romantisch anmutender Atmosphären der singenden Toten reichen Partitur. Für die Toten haben Schnabel und Henze Texte aus Dante Alighieris Göttlicher Komödie in italienischer Sprache vom Inferno zum Purgatorio bis zum Paradiso gewählt. Der Tod erscheint als tröstlich und willkommen.
Foto-Copyright: Jaro Suffner
Zur Besetzung der der Solorollen:
Besonders der kurzfristig für Günter Papendell eingesprungene Bariton Florian Just als Matrose Jean-Charles (rottuchschwenkend gespielt von Martha Jurowski) legte in der hektisch zwischen Sprechgesang, Glissandi, anderen drastischen sprechgesanglichen Ausdrucksmitteln und hoch liegenden Legato-Kantilenen wechselnden, konstruktiv lenkenden Identifikationsfigur eine äußerst bewundernswerte Gesamtleistung vor, die es an Textdeutlichkeit, Expressivität und Klangkultur mit Dietrich Fischer-Dieskau in der Aufnahme mit dem Sinfonieorchester des NRD unter der musikalischen Leitung des Komponisten aufnehmen kann. Auch Jean-Charles muss in Agonie gesunken sterben, bevor die Brigg „Argus“ das Floß sichern kann und die fünfzehn Überlebenden rettet.
Als glänzendes Atout der Besetzung erweist sich zudem die Wahl der charismatischen Mezzosopranistin Idunnu Münch als zwischen Schauspiel und Gesang changierendem Charon. Spielerisch klar und einfühlsam gelingt ihr die rhythmisierende Sprache der Reporterin. So reflektiert sie final mit ruhiger Stimme: „Eine Handvoll überstanden Schwäche und Fieber, die Messer der Freunde, das Geschrei der Sonne und die Übermacht des Mondscheins. Sie leben elend, ein Ende vor Augen, das Mut und Mutlosigkeit zugleich noch verzögern.“
Als verführerisch schön, in einen enganliegenden schwarzen Glitzerlook gekleidete Diva des Todes „La Mort“ zelebrierte die mit leuchtenden Spitzentönen brillierende Koloratursopranistin Gloria Rehm ihre große Show, eine möglichst große Anzahl der „Vielzuvielen“ auf ihre Seite zu ziehen.
Der Chor der Komischen Oper Berlin und der Knabenchor (Einstudierung David Cavelius) hatten entscheidenden Anteil an der glühenden Intensität der Aufführung. Mit ungeheurer Präzision und Sicherheit bestanden sie das gesangliche Abenteuer dieser atlantischen Horrorfahrt als auch der Elysischen Verzückung. Vor allem ist es immer wieder zu konstatieren, wie ausdrucksstark, klanglich mystisch und schwebend sich die Dodekaphonie in der Chormusik erweisen kann. Die Akustik des Hangars wirkte dabei noch als effektvoller Verstärker.
Am Ende der Aufführung öffneten sich nach 80 pausenlosen Minuten Aufführung die Riesentore des Hangars und die „Überlebenden“ rannten hinaus in die Nacht. Weniger um was auch immer „umzustürzen“, als um alsbald sich vor der Nässe schützend in schwarze Bademäntel gehüllt gemeinsam mit allen anderen Mitwirkenden den verdienten frenetischen Applaus des vollzählig erschienenen Publikums entgegenzunehmen. Danach warteten schon die Bars innerhalb des Hangars und im Freien auf dem Tempelhofer Feld mit einer Armada an Gläsern auf das erholungsbedürftige Publikum.
Anmerkung: Was danach geschah: Wer das fantastische, laut Volker Weidemann zurecht als „tarantinoesk“ bezeichnete Buch „Das Floß der Medusa„ von Franzobel gelesen hat (das ich hiermit wärmstens zur Lektüre empfehle), der weiß, wie alles andere als zu Revolutionen aufgelegt es den armen verhungerten und sonnengeblendeten Teufeln nach der Rettung ergangen ist…..
Dr. Ingobert Waltenberger