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BERLIN/ Deutsches Theater: TARTUFFE oder Das Schwein der Weisen von PeterLicht frei nach Molière, Open Air

25.05.2021 | Theater

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Foto: Arno Declair

Berlin/ Deutsches Theater: „TARTUFFE“ oder Das Schwein der Weisen von PeterLicht frei nach Molière, Open Air, 2. Aufführung am 24.05.2021

Diesmal ist es das Deutsche Theater Berlin, das als erstes Haus aufgrund der deutlich gesunkenen Infektionszahlen eine Live-Aufführung vor Publikum wagt, aber Abstand wahrend und Open Air auf dem Vorplatz des Gebäudes. Obwohl das Berliner Wetter durchaus nicht Mai mäßig ist, waren bis zum 30. Mai alle Tickets ratz-fatz weg, und so bleibt nur zu wünschen, dass eine weitere Serie aufgelegt wird.  

Für den Neustart wurde „Tartuffe“, das weltbekannte Stück von Molière, gewählt, jedoch frei bearbeitet von PeterLicht, einem Musiker, der auch als Autor fantasievoller Texte und Aufführungen bekannt geworden ist.

Seine Fantasie sprießt nun vor dem Deutschen Theater wie der Flieder in den Gärten. Soll heißen: die Handlung in ihren Grundzügen übernimmt er von Molière, der an Windungen reiche Text stammt von ihm.

Er habe Molières Tartuffe ins Heute geholt, formuliert das DT. Das stimmt durchaus, denn ständig umkreisen uns nun kunstvolle Sprechgirlanden, die irgendwo im Nirgendwo enden. Fast wie bei politischen Verlautbarungen, nur wesentlich lustiger und durchdachter.

Endlos wird in der Familie des reichen Orgon debattiert, werden Meinungen und Forderungen geäußert, dann wieder in Frage gestellt oder gelockert. Schließlich einigt man sich auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner oder auch nicht. Irgendwie kommt uns das sehr bekannt vor, hat aber weit mehr Charme.

Das ist  den fabelhaften Schauspielerinnen und Schauspielern zu verdanken. Die machen das sprachtechnisch und ganzkörperlich so versiert und überzeugend, dass wohl alle Anwesenden den Wortkaskaden und allem Nonsense sehr  aufmerksam zuhören.

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Foto: Arno Declair

Vor Augen hat man/frau sie auch alle, sieben an der Zahl, die – in der Inszenierung von Jan Bosse und auf der von Stéphane Laimé fabrizierten Bühne – ständig debattierend herumtollen. Die Damen wie zu Molières Zeiten mit kunterbunten wippenden  Reifröcken und irren Perücken (Kostüme Katrin Plath). Mit Live-Musik von rockig bis soft steuert Carolina Bigge das Ihre zum Erfolg dieses Musiktheaters bei.

Anfangs geht es bei drei der ausstaffierten Frauen nur ums Hineingehen ins Gebäude, also ins Deutsche Theater, und das wieder Herauskommen.  Die Zögerliche ist Regine Zimmermann in der Rolle von Herrn/ Frau Pernelle und Mutter von Orgon, dem – wie immer wieder betont wird – der ganze Laden gehört. Vermutlich werden sie alle von ihm durchgefüttert. Fast zärtlich wird er Orgi genannt, und aus Tartuffe wird hier der „Tüffi“.  Also Liebe, Friede, Eierkuchen.

Der Wortschatz, absichtlich schlicht und ergreifend, ist leicht zu merken. Die Schnörkel-Sätze haben nur wenige Grundwörter: geil, ungeil, supergeil, obwohl der Ausdruck geil unter heutigen jungen Leuten nicht mehr ganz aktuell ist.

Diese einst Empörung auslösenden Begriffe passen jedoch zu dieser Sippe, die offenbar in ihrer Jugend hängen geblieben ist und womöglich gar keine geilen Erlebnisse hatte.

Jedenfalls einigt man sich bei allem Hin und Her immer auf „verstanden“ und noch mehr auf „okay“. Zu erleben ist bei allem Klamauk eine Okay-Gesellschaft, die jeder echten Auseinandersetzung im letzten Moment ausweicht. Hier werden keine wahren Wortgefechte ausgefochten, es bleibt alles im Wohlbefinden-Bereich. Chapeau für alle Beteiligten, die diese Textkaskaden mit gelungenem Körpereinsatz so perfekt und amüsant darbieten. Live ist halt live.

Inmitten dieses wortreichen Geschehens läuft oder sitzt Orgi (fabelhaft Felix Goeser) und schwärmt davon, dass er die sichere und wunschlose Mitte für sich und die Seinen entdeckt hat. Die, ihn wie die Planeten die Sonne umkreisend, stimmen ihm selbstverständlich zu. Trotz aller geheimen Wünsche geht also nichts über die bequeme Mittelmäßigkeit.

Doch es ist Orgon selbst, der dieses Idyll abschaffen und durch etwas unerhört Neues, bisher Ungewagtes ersetzen will. Aus diesem Grund hat er den Tüffi, der den meisten Familienmitgliedern suspekt ist, in sein Haus eingeladen. Der ist hier kein Frömmelnder, der sich die Menschen mit harten religiösen Forderungen untertan macht, sondern ein Sexprotz und gewiefter Geschäftsmann, auf den Orgon hereingefallen ist. Später kann man/frau sich fragen, ob Orgon den Scharlatan nicht doch sofort durchschaut hat und nur „Dampf in seine Bude“ bringen wollte, um nicht an Langeweile zu ersticken.

In einem schweinerosa Anzug steigt also der Tüffi grunzend wie ein Eber die Leiter aus dem ersten Stock der ihm zugewiesenen Wohnung zur wartenden Familie hinunter. Das einzige verständliche Wort ist „Workshop“, und das bedeutet bei ihm Arbeit, also mit Sex Geld zu verdienen. 

Alle schlüpfen nun, die Damen recht ungern, in weiße Nacktanzüge, und am besten steht diese Bekleidung dem Tüffi, der in einer Sonderausfertigung mit tiefen Decolletee auch seine behaarte Brust zeigen kann.

Diesen Part spielt nun Božidar Kocevski, der im vorigen Sommer völlig anders – als nachdenklicher Arzt Bernhard Rieux im Stück „Die Pest“ – ungemein überzeugt hat. Jetzt ist er ebenso überzeugend das Schwein der Weisen. Wer die Weisen sind, blieb mir verborgen, sind doch in dieser Version alle unweise und gieren klammheimlich nach Sex, den sie bisher nicht erleben oder ausleben konnten.

Orgis Tochter Mariane (Kotbong Yang) hat etwas gegen die geplante Versuchsanordnung in diesem Workshop, doch Orgon drängt sogar seine Gattin Elmire (Natali Seelig)  zur „Kontextualisierung“,  also zu Sex mit diesem Beau. Wie losgelöst folgt sie ihm und beißt dem Herumhüpfenden förmlich in den Hintern.

Die anderen schauen sich das unter Tischen versteckt an und bringen beim Auftauchen den Tüffi in Rage. Doch der überführte Scharlatan reagiert ganz cool und fordert die extrem hohe Workshop-Gebühr nun von allen. Orgi zahlt großzügig und meint, dass sie immerhin eine neue Erfahrung gemacht hätten.  

Hier könnte /sollte eigentlich Schluss sein. Die besinnlichen Minuten, die nun noch folgen, verlängern das sich mitunter langatmige Stück unnötigerweise auf etwa zwei Stunden. Darauf könnte zumindest die Berichterstatterin nach den zahlreichen Dehnungen gerne verzichten, aber garantiert nicht auf die großartige Performance aller Damen und Herren, die den ausgiebigen Beifall bestens verdient haben. Dazu gehören auch Tamer Tahan als Orgons Sohn Damis, Moritz Grove als Schwager Cléante und Linn Reusse als Zofe Dorine.

Ein weiterer Gedanke kommt nach dieser leichtfüßigen Stückfassung ebenfalls in den Sinn: Die Tartuffes sind nach wie vor quicklebendig und erfolgreich tätig. Nicht selten wickeln sie auch im Theater- und Operngeschäft selbst diejenigen um den Finger, die sich eigentlich nicht von irgendwelchen Namen blenden lassen sollten. Das DT mit seiner Crew ist nach diesem gelungenen Frischluft-Abend damit aber nicht gemeint!   

Ursula Wiegand   

 

 

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