Wolfram Koch und Ulrich Matthes. Foto: Arno Declair
Berlin/ Deutsches Theater: „DON QUIJOTE“, Deutsche Erstaufführung der Fassung von Jakob Nolte, 20.10.2019
„Don Quijote“, geschrieben von Miguel de Cervantes Anfang des 17. Jahrhunderts, ist offenkundig nach wie vor hochaktuell. Immer wieder greifen Theater und Opern nach diesem Stoff, um ihn in Szene zu setzen. Warum wohl?
Vielleicht weil viele oder alle ihn schon erlebt haben, diesen „Kampf gegen Windmühlen“, den vergeblichem Versuch zur Verwirklichung eigener Träume oder das gescheiterte Bemühen um etwas Vernünftiges, das von anderen torpediert wird. Dennoch schmunzeln wir einigermaßen verwundert über die Fantasiewelten, in die sich nicht nur Don Quichote, sondern bald auch der bodenständige Sancho Panza flüchtet.
Picasso hat ihn gemalt, diesen Möchte-Gern-Ritter, der auf der klapprigen Rosinante, die Lanze in der Hand und den dicklichen Sancho zu seinen Füßen vorbei an nur winzigen Windmühlen der strahlenden Sonne entgegen reitet. Einer, der das triste Jetzt besiegt hat und uns empfiehlt: „Ohne zu sehen, müsst Ihr glauben, müsst Ihr bejahen, bekennen, beschwören, verfechten.“ Heutzutage eine radikale und nicht unumstrittene Forderung.
Aber nun ganz real – wo ist denn das Pferd? In der Deutschen Oper Berlin, die Ende Mai 2019 den „Don Quichotte“ von Jules Massenet aufführte, schlüpfte der Bassbariton Seth Carico als Sancho Panza in ein Pferdekostüm inklusive Kopf und schleppte den durchaus stattlichen Ritter (Alex Esposito) auch noch kräftig singend über die Bühne.
Dermaßen mühen muss der ebenfalls kraftvolle Wolfram Koch im Deutschen Theater Berlin erstmal nicht. Als Sancho Panza kehrt er – in der Regie von Jean Bosse – zunächst die komischen Seiten dieses Typen heraus und kurvt mit dem hageren Ulrich Matthes (Don Quichote) im Einkaufswagen, munter und ins Horn blasend, über die Bühne.
Also „auf in den Kampf“, koste es was es wolle, und hinein in die weite wüstenartige Hochebene La Mancha, in der im Sommer die Sonne flirrt und sich Fata Morgana ähnliche Fantasiebilder leicht entwickeln können. Zumal wenn im Einkaufswagen, wie sich später herausstellt, nicht viel Ess- und Trinkbares enthalten ist.
Matthes, diesem Gefährt entstiegen, fuchtelt mit langer Lanze dicht über die Köpfe der vorne Sitzenden hinweg, während Koch sich mehrmals krachend auf den Boden klatscht, um sofort einzuschlafen, falls er nicht gerade Nebel versprüht.
Der dünne Don Quichote scheint keine Ruhepause zu benötigen, ständig blickt er mit großen, erwartungsvollen Kinderaugen umher, lauscht auch mal fernen Klängen (Musik: Arno Kraehahnder). Der hat – wie sein Alter Ego bei Cervantes – zu viele Rittergeschichten gelesen. Nun will auch er Feinde entdecken und glorreich besiegen.
Ist diesem Zarten, gekleidet in Jeans, einem weißen Gewand, darüber ein Kettenhemdchen und mit blütengeschmücktem Aluhut auf dem Kopf ( Kostüme: Kathrin Plath) solches überhaupt zuzutrauen?
Der wirkt doch eher wie einen Wiedergänger der kalifornischen Blumenkinder. Laut Cervantes will dieser selbsternannte edle Ritter die Feinde wortwörtlich scharenweis’ töten, um sie als Trophäen der von ihm angebeteten Dulcinea von Toboso zu Füßen zu legen, die hier übrigens niemals erscheint. Andererseits betont er jedoch, dass er seine Mitmenschen gegen das Böse verteidigen und ein neues Goldenes Zeitalter herbeiführen will.
Wie dem auch sei – Ulrich Matthes und Wolfram Koch, diesen beiden singulären Schauspielern, glaubt das Publikum zu Recht einfach alles, muss sich aber auch voll auf den fein gesponnenen und einfühlsam gesprochenen Text von Susanne Lange konzentrieren. Ähnlich wie vor Jahren in Samuel Beckets „Endspiel“, das beide großartig gestaltet haben.
Nun überzeugen sie gleichermaßen und haben im Sommer bereits bei den Bregenzer Festspielen begeistert, denn zwei besondere Könner sind am Werke.
Matthes bringt Cervantes’ Gedanken träumerisch-poetisch mit einigen kraftvollen Ausbrüchen. Koch setzt die Stimme der Vernunft dagegen, oft eher derb volksnah und mit Berliner Zutaten, später aber zunehmend nachdenklich.
Anfangs redet sich Sancho, der Realo, jedoch vergeblich den Mund fusselig, dass die von seinem Meister verehrte Dulcinea keine Schlossherrin, sondern nur eine simple und derbe Schafhirtin ist. Und dass die anrückenden Feinde nur Schafe und Ziegen oder Windmühlen seien, mit deren kreisenden Flügeln Don Quichotte bekanntlich ungute Bekanntschaft macht.
Sancho bandagiert ihm das stark lädierte Ohr und gibt ihm einen neuen Namen: Ritter von der traurigen Gestalt. Der akzeptiert das, beklagt sich ansonsten aber über Sanchos ständigen Redefluss. Dennoch werden sie zu Freunden, die redend den Entbehrungen Stand halten und trotz aller Rückschläge immer wieder zu neuen sonderbaren Taten bereit sind.
Es ist auch nicht nur die vom Ritter versprochene Insel, die Sancho gouvernieren will, die ihn daran hindert, zu Frau und Kindern zurückzukehren. Längst ist auch dieser Handfeste dem Zauber der Fantasie erlegen. Er weiß, dass der Ritter verrückt ist, nimmt das hin und bleibt stets beim respektvollen „Sie“. Trotz aller Streitereien werden sie Freunde. Einer ohne den anderen – das geht in der Mancha gar nicht. Vertrauensvoll benutzt Sancho auch mal die Schulter seines Herrn als Ruhekissen.
Wolfram Koch (rechts) hüllt Ulrich Matthes in Nebel. Foto: Arno Declair
Daher spannt sich der kräftige Sancho auch immer wieder wie ein Gaul vor einen großen Holzkasten (Bühne: Stéphane Laimé) und zerrt den darin befindlichen Ritter über die Bühne, klettert auch mal behände hinauf, um nach neuen „Aventuren“ Ausschau zu halten.
Als Kneipe dient dieses Möbel ebenfalls und so als Ort einer nicht gezeigten Prügelei zwischen dem Ritter und den dort Saufenden. Wieder muss Sancho die Wunden pflegen, und gegen den Schmerz nützt auch der eklige, selbst gemixte Wundertrank nichts, den beide gierig trinken und hinterher wieder auskotzen.
Diese drastische Beigabe ist nur ein kleines Füllsel. Weit amüsanter gelingt der Abstieg des Ritters in eine Höhle, da Koch ihn mit einem langen Seil sichert. Mit dem rennt er durch den ganzen Saal und zieht schließlich seinen Herrn wieder hinaus, der von wundersamen Erlebnissen erzählt.
Eingefügt ist auch eine Szene, in der vor allem Sancho jubiliert: Über den großen Erfolg des ersten Romanteils, den Cervantes 1605 im Gefängnis geschrieben hatte. Schon damit wurden die beiden, also auch er, der einfache Bauer, in ganz Spanien bekannt. Tatsächlich wurde das Buch den Händlern aus den Händen gerissen. Den zweiten Teil schrieb Cervantes 10 Jahre später.
Die letzten Begebenheiten werden in dieser Aufführung abgetrennt, und das stört doch ein wenig. Sancho hat wider Erwarten doch seine Insel bekommen, hält eine Rede an sein imaginäres Volk und benutzt dazu genau die Sätze des Ritters. Um dann sehr ernüchtert festzustellen, dass der Erfüllung aller Wünsche nur noch der Tod folge.
Geschwind verzichtet er auf das Eiland und kümmert sich stattdessen liebevoll um seinen tatsächlich im Sterben liegenden Herrn. Wie ein Kind bettet er ihn ganz behutsam auf den Boden und wacht bei ihm bis zum letzten Atemzug. Vorbei sind alle Träume, die Realität ruft. Nach einer Denkpause belohnt das Publikum mit starkem Beifall Ulrich Matthes und Wolfram Koch, diese beiden einmaligen Interpreten.
Ursula Wiegand