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BERLIN/ Deutsche Oper/Staatsballett: mit „DAWSON“ und Uraufführung von „VOICES“

27.09.2021 | Ballett/Performance

Berlin/ Staatsballett Berlin: mit „DAWSON“ und der Uraufführung von „VOICES“ am 26.09.2021 in der Deutschen Oper Berlin

Endlich ist es wieder da – das Staatsballett Berlin, an diesem Abend mit 14 Tänzerinnen und Tänzern. Endlich wird auch mit „DAWSON“, benannt nach dem Choreographen, etwas grundsätzlich Neues geboten.

Um 18 Uhr ist an diesem besonderen Sonntag die Stimmabgabe für die Bundestagswahl offiziell beendet. Zur gleichen Zeit startet diese Premiere in der Deutschen Oper Berlin. Der große Saal ist dennoch sehr gut gefüllt, auf diesen Moment haben die in- und ausländischen Ballettfans Corona bedingt lange warten müssen.

Mit Ausschnitten aus dem Repertoire und kleinen Choreographien aus dem Ensemble – genannt „From Berlin with Love“ – hatte man mehrmals versucht, während der Pandemiezeit wenigstens etwas zu bieten, um nicht aus dem Tritt zu kommen oder gar in Vergessenheit zu geraten. Das ist offenbar geglückt, sonst wären an diesem warmen Beinahe-Sommerabend nicht so viele Tanzfans gekommen.

Das Zugpferd ist sicherlich der sehr renommierte britische Choreograph David Dawson, früher selbst Tänzer, der erstmals seine Arbeiten in Berlin präsentiert. Aber „es war ein langer Weg, David Dawson davon zu überzeugen, eine Kreation für das Staatsballett Berlin zu erarbeiten“, steht ehrlich im Programmheft.

Normalerweise möchte er ein Ensemble erst sehr gut kennenlernen, bevor er mit ihm arbeitet. Doch im 2. Lockdown sei halt nichts normal gewesen, und so habe man – abgesichert durch andauerndes Corona-Testen – doch zueinander gefunden. Mit „VOICES“ (Stimmen) ist sogar eine Uraufführung zustande gekommen.

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Staatsballett Berlin: Citizen Nowhere mit Olaf Kollmannsperger. Foto: Yan Revazov

Der Abend beginnt jedoch mit „CITIZEN NOWHERE“, das im Februar 2017 im Amsterdam uraufgeführt wurde und nun eine deutsche Erstaufführung darstellt. Dieses sehr anspruchsvolle Solostück für einen Tänzer zeigt, dass sich jemand schon weit vor der Pandemie allein, orientierungslos oder ausgegrenzt fühlen konnte.  Diese Rolle gestaltet großartig und mit bestens austrainiertem Körper der Solotänzer des Staatsballetts Olaf Kollmannsperger.

Hin und her tanzt er zur Musik von Szymon Brzóska mit nacktem Oberkörper kraft- und ausdrucksvoll über die breite Bühne, ein Mensch auf der Suche, ohne ein deutliches Ziel zu haben. Eine Situation, in der sich heutzutage nicht wenige junge Menschen, zumal in der Großstadt befinden.

Ein Film (von Altin Kaftira) gaukelt ihm plötzlich das Gesicht einer Frau in Großaufnahme vor, den Körper in roten Flattergewändern gekleidet. Er bestaunt die fremde Schönheit. Sehnt er sich nach einer Partnerin?  Ob Ja oder Nein bleibt offen. Er tanzt weiter, liegt auch mal enttäuscht und erschöpft am Boden. Schließlich ertönt der Spruch von Antoine de Saint-Exupéry aus dem Büchlein Der kleine Prinz; „Man sieht nur mit dem Herzen gut.“ Das scheint ihn wieder aufzumuntern.

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Staatsballett Berlin: Citizen Nowhere mit Olaf Kollmannsperger. Foto: Yan Revazov

Was sieht und lernt Olaf Kollmannsperger in seinem anspruchsvollen Alleingang, der keine Wackler und Fehler verzeiht? Laut Programmheft sind es 20 Minuten, meine Uhr hat 30 Minuten angezeigt. Die Heraufstufung zum Ersten Solotänzer müsste ihm nach dieser Leistung eigentlich sicher sein. Doch noch hat das Staatsballett Berlin keinen Chef, der dieses vornehmen könnte.

Bei „VOICES“  für und mit 14 Tänzer/innen der Compagnie, entstanden während des Lockdowns ab Januar 2021, haben die besonderen Umstände die Entwicklung der Choreographie geprägt.  

„Diese Situation hat diese Kreation geformt. Ein Schaffensprozess kann sehr schnell vorangehen, aber diese Arbeit war wirklich eine Meditation, über die Ideale, nach denen wir im Leben suchen, über die Utopie, die wir uns vorstellen oder den Ort, an dem sie existieren können. Und das haben wir in diesem Moment wirklich und ganz real versucht“, so David Dawson

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Staatsballett Berlin: Voices mit Polina Semionova. Foto: Yan Revazov.

Die nächste Überraschung ist ebenfalls fällig: Polina Semionova, Ex-Star des Staatsballetts Berlin, steht nach längerer Pause als „special guest“ wieder auf der Bühne. Übrigens als Einspringerin, wie von Dawson gebeten, sagte sie freimütig wenige Tage vor der Aufführung bei einem Interview in der Berliner Morgenpost.

Erst vor fünf Monaten hat sie ihr zweites Kind bekommen, das kostet Kraft und Schlaf. „Für meinen Körper war das jetzt schon ein Schock“, bekennt sie. Doch die Sehnsucht nach der Bühne, die elegische Musik von Max Richter und Dawsons Inszenierung haben sie diesen frühzeitigen Einsatz wagen lassen.

In drei der 10 Teilstücke steht sie auf der Bühne und gewinnt mit ihrer Ausstrahlung sofort das Publikum. Sie scheint etwas vorsichtiger als früher zu tanzen, doch verlernt hat sie nichts. Wer es nicht weiß, wird ihr die zweite  Babypause nicht anmerken. Ähnlich professionell agieren auch die anderen. Die zierliche Aya Okumura imponiert mit einem Beinahe-Solo.

Begleitet wird das Gesamtstück von der vom Tonträger eingespielten Musik sowie das Sprechen der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948, die Richters Musik zugrunde liegt.

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Staatsballett Berlin: Voices von David Dawson. Foto: Yan Revazov

Zum Wahlsonntag passt das gut, und das deutlich spürbare Aufbereiten der Corona-Erlebnisse und –Ängste passt ebenso. Alle haben, so wird betont, bei den Proben sehr aufeinander aufgepasst und sich unterstützt.

Auf der Bühne sind nun zumeist Paare zu sehen. Immer wieder werden die Tänzerinnen von ihren kräftigen Kollegen (in zumeist simplen T-Shirts) gehoben und getragen, während sie mit Charme und eleganten Gesten das Ihre bieten. Irgendwie wird die angeblich „gute alte Zeit“ heraufbeschworen. Der athletische Erste Solotänzer Alejandro Virelles „betreut“ die groß gewachsene Polina.

Dieses im Alltagsleben oft vermisste fürsorgliche Miteinander berührt, irritiert aber auch etwas. Gerade die Frauen mussten in der Pandemie mit Home-Office und Home-Schooling ihren „Mann stehen“ und oft mehr leisteten als die Männer.

Einlullen will uns Dawson jedoch sicherlich nicht und wohl nur zeigen, wie einer des anderen Last tragen könnte. Dem Publikum gefällt diese angenehme, leider etwas aus der Mode gekommene Menschenfreundlichkeit offenbar sehr. Rücksichtslosigkeit und Brutalität haben wir ja genug.

„Mercy“ heißt das letzte Stück dieser Voices-Serie, überzeugend dargeboten von Polina Semionova und Alejandro Virelles. Sie bedanken sich damit bei Dawson für diese Uraufführung und auch für die Möglichkeit, nun wieder vor Publikum zusammen mit dem Ensemble tanzen zu können. Dieses bedankt sich andererseits mit langem, heftigem Beifall, der in „Standing Ovations“ mündet.

Weitere Vorstellungen am 3., 9., 13., 16., 18. und 21. Oktober. Weiter erst im Januar 2022.    Ursula Wiegand

Details:

1) Choreographie und Konzept zu „CITIZEN NOWHERE“ von David Dawson, Musik: Szymon Brzóska, Bühne: Eno Henze, Kostüme: Yumiko Takeshima, Licht: Bert Dalhuysen, Film: Altin Kaftira

2) Choreographie und Konzept zu „VOICES“ von David Dawson
Musik: Max Richter, Bühnenbild: Eno Henze, Kostüme: Yumiko Takeshima
Licht: Bert Dalhuysen
Fotos: Yan Revazov

 

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