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BERLIN/ Deutsche Oper: „MESSA DA REQUIEM“ – Ballettpremiere

15.04.2023 | Ballett/Performance

BERLIN / DEUTSCHE OPER „MESSA DA REQUIEM“ – Ballettpremiere; 14.4.2023

Triumphaler Einstand des designierten Leiters des Staatsballetts Berlin

„Es gibt keinen anderen Grund zur Hoffnung als uns selbst“ Christian Spuck

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Copyright: Serghei Gherciu

Jetzt ist er noch Direktor des Balletts Zürich: Christian Spuck wird mit Beginn der Saison 2023/24 Intendant des Staatsballetts Berlin. Aus Zürich hat er seine künstlerische Visitenkarte, die gestern Abend einhellig bejubelte Erfolgsproduktion seiner Choreografie von Verdis Requiem mitgenommen. Sie wird ab der Saison 2023/24 auch vom Finnische Nationalballett Helsinki getanzt werden.

Die Berliner Sterne standen gut für das Verdi-Requiem. Musikalisch vor allem deshalb, weil der Rundfunkchor Berlin (Einstudierung Justus Barleben) einfach die beste Adresse für solch große Chorwerke in Berlin ist. Die Damen und Herren des Chors haben eine Musterstunde an homogenem Chorklang, exzellenter Diktion, an perfektem Timing und betörender Klangqualität in ausgetüftelter Balance der Stimmen exerziert. Da ich als Basschorist das Verdi-Requiem selbst sehr oft gesungen habe, u.a. auch auf der Bühne der Oper in Zürich unter Nello Santi, weiß ich, wovon ich spreche. So eine Chorleistung ist kostbar, rar und kann nicht genügend gewürdigt werden. Noch dazu hat die szenische Involvierung des mit dem Corps des Balletts gleich gekleideten Chors etwa in den großen Dies irae Passagen noch ein Plus an Ausdruck und Konzentration erbracht.

Die Choreografie von Christian Spuck ist zurecht legendär. Er verzichtet vollkommen auf das Erzählen einer Geschichte, auf das Aufladen von Gesten mit narrativer Bedeutung, sondern hat sich zur Musik sechzehn große Tableaus einfallen lassen, „die auf die Musik reagieren, ihr etwas Eigenes hinzufügen, szenische Kraft besitzen und den Betrachter die Musik anders hören lassen.“

Er lässt seine Tableaus zwischen skulpturaler Monumentalität und intimsten zwischenmenschlichem Austausch, des Befragens von Einsamkeit und Zuspruch im Leid, vom Hereinbrechen höllischer dunkler Mächte in unser Dasein abstrakt entwickeln. Spuck setzt dabei auf einen klassischen Bewegungskanon, aber auch auf eine organisch fließende Bewegungsregie der Massen, die das Ballett, den Chor und die vier Gesangssolisten gleichermaßen einen. Die vielen pas de deux, pas de trois etc. funkeln nur so vor schöpferischem Einfall und positiver Energie.

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Copyright: Serghei Gherciu

Die Tänzer und Tänzerinnen spielen keine Rollen, sondern sind Menschen in ihrer vollen künstlerischen Individualität und ganz persönlichem Temperament. Da fasziniert der Franzose Sacha Males im Dies irae als aschbedeckter oder schon vom Fegefeuer angebrannter Golum in einem atemberaubenden Solo, das alle Qualen einer geschundenen Seele und mit einem ebensolchen Körper in expressiver Drastik konkretisiert. Ihm ist vor dem Vorhang ein Applaus und begeistertes Gejohle des überwiegend jungen Publikums, das Popkonzertdimensionen erreicht, gewiss. Ebenso dem Tänzer-Traumpaar Polina Semionova und David Soares, die im ‚Rex tremendae‘ und ‚Agnus dei‘ in subtil tänzerischer Élegance und technischer Perfektion der Musik ihre innersten Gefühle anvertrauen. Sie dürfen hier stellvertretend für jeden einzelnen und jede einzelne des in großer Formation angetretenen Balletts gelten, die die szenische Versuchsanordnung des Miteinander in einem geschlossenen Raum in belasteten und schwierigen Umständen mit Leben, Wahrhaftigkeit und Hingabe erfüllen. Das Wunderbare und Einzigartige an der Choreografie ist das ständige Fließen der Bewegungen, der Figuren und ihrer emotionalen Befindlichkeiten, die Probe des Ausschöpfens der Möglichkeiten des Menschen, es zu- und miteinander anders versuchen, anders denken oder machen zu wollen. Der Zuseher profitiert von der Vieldeutigkeit, indem er sich ganz mit seiner persönlichen Geschichte und seinen Erfahrungen in Beziehung dazu setzen kann. Es geht ja schließlich im Verdi-Requiem um Themen, die dem Alltag und seiner Banalität glücklicherweise völlig entzogen sind: „Wer sind wir? Wo kommen wir her? Wo gehen wir hin?“ Spuck lässt dazu in tänzerisch heutiger Fantasie Dantes Inferno und Paradiso bildlich fluktuierend vor uns erstehen.

Auch szenisch stimmt alles: Im kubischen, dunklen Raum des Christian Schmidt lässt Martin Gebhardt das Licht nach aus der bildenden Kunst der Spätrenaissance kommenden Chiaroscuro Effekten per Handwagen auf die jeweilen Akteure der Bühne strahlen.

Dirigiert wird der dramaturgisch und chorisch so beglückende Abend von Nicholas Carter. Der Chefdirigent und Co-Operndirektor der Oper Bern hält die Fäden zwischen dem Orchester und der Bühne straff. Dabei lässt er trotz rasantester Tempi in der ‚Sanctus‘ Fuge und im abschließenden ‚Libera me‘ insgesamt genügend Platz für Flexibilität, um Spielräume für spontanes tänzerisches Phrasieren zu schaffen. Das Orchester der Deutschen Oper Berlin folgt ihm mit hoher Konzentration.

Das Solistenensemble ist mit Olesya Golovneva (Sopran), Annika Schlicht (Mezzo), Andrei Danilov (Tenor) und Lawson Anderson (Bass) jung und von den Stimmfarben her homogen besetzt. Wenn der vor allem mit einer sicheren Höhe beeindruckende Danilov noch lernt, Piani zu singen (‚Ingemisco‘, ‚Hostias)‘ und Schlicht mit ihrem prächtig timbrierten Mezzo die vereinzelten Intonationstrübungen in den Griff bekäme, hätten wir ein echtes Dream Team am Werk. So darf aber immerhin schon über die vollendete Leistung der außergewöhnlich musikalischen und luxuriös timbrierten Sopranistin Golovneva berichtet werden, die ihren Gesang textdeutend mit dramatischem Sinn auflädt. Auch der US-amerikanische Bassbariton Lawson Anderson erfüllt seine Aufgabe nicht nur im gekonnt satten Orgeln der dafür dankbarsten Stellen der Partitur, sondern fühlt mit dynamischer Differenzierungskunst der Musik auf den Grund.

Fazit: Ein unbedingt sehens- und hörenswerter Abend, der in schlichter Ästhetik und einem beispielhaften Miteinander von Tanz und Musik in jeder Hinsicht überzeugt.

Dr. Ingobert Waltenberger

 

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