Amina (Venera Gimadieva) kommt schlafwandelnd zu Graf Rodolfo (Ante Jerkunica), copyright Bernd Uhlig
Berlin / Deutsche Oper: „LA SONNAMBULA“, ein Belcanto-Ereignis. 10.02.2019
Was für ein liebes Mädel ist doch diese Amina! Das ganze Dorf schwärmt für sie und preist ihre Reinheit. Die junge russische Sopranistin Venera Gimadieva passt, wie sich bald herausstellt, bestens in diese Rolle, und schnell wird klar, warum sie bereits international stark gefragt ist.
In dieser vierten Aufführung von „La Sonnambula“ an der Deutschen Oper Berlin gibt sich Venera Gimadieva zunächst als liebreizend Schüchterne, jedoch mit einer Stimme, die im Verlauf von Bellinis Belcanto-Oper alle Gefühlsschwankungen und Erlebnisse dieser jungen Frau in allen Schattierungen schildern kann. Was sie freut, was sie begeistert, wovor sie sich ängstigt, wie sehr sie liebt und ihre Unschuld beteuert und wie intensiv sie als Verachtete leidet – alles lässt sich aus diesem ebenso lyrischen wie koloraturfähigen Sopran heraushören.
Doch bevor Venera Gimadieva das erste Mal in Erscheinung tritt, richtet sich die Aufmerksamkeit auf Alexandra Hutton, die sehr aparte Schankwirtin Lisa. Schlechtgelaunt sitzt sie mehrfach rauchend im Saal einer Dorfkneipe, möbliert mit schlafzimmergerechten großen braunen Schränken an den Wänden. Hässlichkeit hoch drei, aber absichtlich. (Bühne und Kostüme: Anna Viebrock)
Weißer Angorapulli, enger, hoch geschlitzter Rock, der oft noch höher rutscht, um ihre wirklich schönen Beine zu zeigen – so setzt sich diese Lisa in Szene, eine Frau, vermutlich nicht mehr ganz jung, die sicherlich „nichts anbrennen“ lässt. Nur von dem sie ständig bedrängenden Alessio (Andrew Harris!) will sie partout nichts wissen.
Sie hatte eine Weile Elvino als Partner, doch der – auch finanziell eine gute Partie – heiratet jetzt Amina. Voller Wut und daher besonders laut klappt sie, während die Musik schon läuft, die Sitzbänke auseinander und schmettert auch gekonnt einige zornige Koloraturen, während die Dörfler (der Chor, einstudiert von Jeremy Bines) den Hochzeitsfestgesang proben.
Die logische und mit guten Ideen gespickte Inszenierung ist kein Eigengewächs. Die Deutsche Oper Berlin hat diese vor fünf Jahren ersonnene Regiearbeit von der Stuttgarter Oper übernommen. Warum das Rad neu erfinden, wenn bereits etwas gut Durchdachtes zur Verfügung steht?
Starregisseur Jossi Wieler hat jedoch zusammen mit Sergio Morabito diese Inszenierung für die Deutsche Oper Berlin neu eingerichtet und überzeugt damit, zumal sein Interesse vor allem den Personen gilt, die in Bellinis Melodramma zwischen Liebe und Leid mitunter völlig die Orientierung verlieren. Auch einzelne Szenen sind fein durchleuchtet. Überzeugend und tonschön werden alle ihren Rollen gerecht.
Am meisten gefordert sind Venera Gimadieva als Dorfmädchen Amina und der mexikanische Tenor Jesús León als ihr Bräutigam Elvino. Großartig singend und intensiv spielend machen sie klar, wie sehr sie sich lieben, in welche Gefahr jedoch ihre Liebe gerät, und wie schnell Gefühle in Eifersucht, Kummer, Verzweiflung und Wut bis zu Mord- und Selbstmordgedanken umschlagen können.
Venera Gimadieva als Amina, Alexandra Hutton als Lisa, Helene Schneiderman als Teresa, copyright Bernd Uhlig.
Venera Gimadieva kann, wie schon erwähnt, eine ganze Gefühlsskala bieten, während Jesús Leóns lyrischer, aber koloraturgewandter Tenor ermüdungsfrei und intonationssicher sehr angenehm in die Ohren dringt. Zwei junge Künstler, schon international gefragt und vielleicht auf dem Weg zum Star.
Als Dritter und Störenfried der bevorstehenden Hochzeit kommt bekanntlich der verschollene Graf Rodolfo ins Geschehen. Nach Grafenart, von Amina innerlich berührt, benimmt er sich sogleich als solcher, streichelt ihr Gesicht und flirtet gekonnt mit ihr. Wie sollte sie auch diesem gewieftem Verführer, und wie sollte das Publikum seinem ebenso verführerischen, reichhaltigen Bass widerstehen? Über die ungebildete Dorfbevölkerung amüsiert er sich deutlich.
Als die schlafwandelnde Amina sein Zimmer betritt, versucht er zunächst noch als Gentleman zu handeln. Er merkt ja, dass sie gar nicht bei Sinnen ist. Hier ist sie es, die die Initiative ergreift, und bald geht’s im Bett heftig zur Sache.
Schon vorher wandelte Aminas verstorbene Mutter, einst die Geliebte des jungen Rodolfo, mehrmals als stumme Wiedergängerin durch einzelne Szenen. Allmählich begreift Graf Rodolfo, dass er Sex mit seiner eigenen Tochter gehabt hat, die dennoch in wunderbaren Gesangsbögen immer wieder ihre Unschuld beteuert.
Als die Dorfbevölkerung mit Äxten und Mistgabeln in die Kneipe stürmt, um den unwillkommenen Grafen auf ihre Art zu begrüßen, versteckt der sich in einem der Schränke. Die Inszenierung wird jetzt sehr deutlich: Amina taumelt aus dem Bett, und triumphierend hält Lisa, die sich zuvor ebenfalls an den Grafen herangemacht hatte, das blutige Bettlaken hoch.
Die Dörfler brechen derweil die Lederkoffer des Grafen auf, um sich das Passende anzueignen, die Männer seine feinen Hemden und Unterhosen, die Frauen eher seine Bücher und die Kosmetiktasche Eine zieht gleich seinen seidenen Morgenmantel über ihre Kittelschürze.
In all’ dem Tohuwabohu behält nur eine annähernd die Übersicht: Aminas Stiefmutter Teresa. Zärtlich und besorgt agiert Helene Schneiderman, wohl aus Stuttgart gleich mitimportiert. Lupenrein singend glaubt an die Unschuld der nun fieberkranken Amina. Ihr Hemd ist erneut blutbefleckt, sie krümmt sich vor Schmerzen und hat eine Fehlgeburt. Elvino krümmt sich unterdessen vor lauter Verzweiflung, dennoch anrührend und kraftvoll singend, auf dem Boden. Hilflos ist auch er.
Mutig hält Teresa dem Grafen, der vor Scham das Gesicht verbirgt, das Tuch mit dem blutenden Fötus entgegen. Nein, das ist nicht reißerisch inszeniert. Wieler und Morabito haben die verschiedenen Textquellen offenbar genau studiert und außerdem logische Schlüsse gezogen.
Von der gerade vergangenen Nacht mit dem Grafen kann dieses bisschen Leben nicht stammen. Dafür muss Elvino verantwortlich sein, da sich die beiden schon länger kennen und lieben. Würde dieser Elvino zu Bellinis Zeiten eine Frau geheiratet haben, von der alle wissen, dass sie keine reine Jungfrau mehr ist? Mit dem unaufgeklärten Mädchen ist etwas geschehen, das sie nicht versteht. Daher fühlt sie sich schuldlos. Unter welchen Schmerzen das bekannte Happy End geboren wurde, verschweigt diese Inszenierung nicht.
Zuletzt großer Jubel, auch für das Orchester der Deutschen Oper Berlin unter der Leitung von Stephan Zilias. Der ursprüngliche Dirigent Diego Fasolis hatte zur Hauptprobe aus künstlerischen Gründen, so hieß es, plötzlich das Handtuch geworfen. Zilias, sein Assistent, sprang ein und rettete die Premiere am 26. Januar.
Inzwischen ist alles gut eingespielt, und alle können ohne Premierenstress ihr Können beweisen. Sie haben es getan und das Publikum mit einem herrlichen Belcanto-Abend beglückt. Es ist eine alte Opern- und Theaterweisheit: Wer keine Premierenverpflichtungen hat und aufs „Schaulaufen“ verzichten kann, ist mit der dritten oder vierten Vorstellung, falls hochkarätige Gastsängerinnen und Gastsänger an Bord bleiben, zumeist weitaus besser bedient.
Ursula Wiegand
Weitere Vorstellungen am 19. und 25. Mai