BERLIN / Deutsche Oper LA GIOCONDA; 18.2.2024
Foto: Bettina Stoess
Bühnenbild und klassische Balletteinlage als Co-Stars einer Opernaufführung: Vorletzte Vorstellung der Inszenierung von Filippo Sanjust aus dem Jahr 1974
Wenn es doppelten Szenenapplaus für ein (historisch illusionistisches) 50 Jahre altes Bühnenbild (2. Akt, 3. Akt, 2. Szene) zu vermelden gibt, heftige Zustimmung für die sechs Protagonisten, Chor und Tanz, überhaupt eine ganz besondere gemeinschaftlich positive Stimmung in einer bis auf den letzten Platz ausverkauften Repertoirevorstellung herrscht und noch nach fünf Stunden mit drei langen Umbaupausen quasi alle da sind und unisono jubeln, muss etwas sehr besonders in der Luft liegen.
Das Dramma lirico in vier Akten „La Gioconda“ auf ein Libretto von Tobia Gorrio (=Arrigo Boito) nach dem Drama „Angélo, tyran de Padoue“ von Victor Hugo feierte an der Deutschen Oper Berlin am 1. März 1974 Premiere. Mit Leonie Rysanek, Eva Randova, Vera Little und Franco Tagliavini in den Hauptrollen. (Wer sich für die Gioconda Rysanek – Little-Augisthius -Tagliavini Tapes interessiert, wird bei Youtube fündig, besonders der tontechnisch ansprechende Mitschnitt vom 26.6.1976 mit Franca Mattiucci als Laura ist sehr zu empfehlen).
Nach fast genau 50 Jahren wird am 24.2.2024 die letzte Vorstellung von „La Gioconda“ in dieser Inszenierung des italienischen kunstsinnigen Regisseurs, Bühnen- und Kostümbildners sowie Drehbuchautors Filippo Sanjust über die Berliner Bühne gehen, dann ist Schluss, weil der Zustand der Kulissen ein Weiterspielen angeblich nicht mehr erlaubt.
A propos Bühnenbild und Ausstattung: Die fünf farbenprächtigen Szenenbebilderungen und die Kostüme sind von einer atemberaubenden Schönheit und prachtvollen Eleganz. Das trifft ganz besonders auf den 1. Akt mit dem Innenhof des Dogenpalastes mit der Scala dei Giganti samt Perspektive auf die Südfassade von San Marco, das Schiff im zweiten Akt mit Blick auf Venedig und ganz besonders auf den Festsaal des Palazzos Ca’d’Oro zu. Die Entwürfe basieren auf den Arbeiten von Camillo Parravicini für eine Inszenierung in Rom 1933. Wie Arne Langer im Programmheft festhält, lässt sich schwerlich klären, wo die in Berlin gezeigten Dekorationen zuerst zu sehen waren. Auch muss mangels Bildquellen offenbleiben, inwieweit diese Ausstattungen tatsächlich noch auf ein Modell der Uraufführung bzw. die Entstehungszeit der Oper zurückgehen. Daher sei die Angabe „aus der Entstehungszeit der Oper irreführend“.
Die Oper „La Gioconda“ ist ein musikalisch spezieller Fall. In diesem sängerisch so anspruchsvollen wie ergiebigen Werk fügen sich Elemente der Grand Opera, des Belcantos, volkstümlicher Melodien und des Verismo auf eine spezielle Art zu einem reizvollen Gesamtkunstwerk. Dazu gehört die packend flotte Ballettmusik „Tanz der Stunden“, die wegen des legendären „Fantasia“-Films von Walt Disney aus dem Jahr 1940 weit über ein Fachpublikum hinaus bekannt ist.
Inhaltlich geht es um Dolch und Gift, Eifersucht und fatale Leidenschaften, Mutterliebe, Erpressung, Mord und Selbstmord in einem von der Inquisition durchseuchten und dennoch mit Gondelwettfahrten und opulenten Festen rauschhaft sich selbst feiernden Venedig des 17. Jahrhunderts.
Foto: Bettina Stoess
Die „La Gioconda“ Aufführung am 18.2. funktionierte dank der präzisen und detailgenauen Spielleitung von Gerlinde Pelkowski szenisch nicht zuletzt in den großen Volksszenen grandios und war sängerisch top. Unter der kapellmeisterlich tüchtigen musikalischen Leitung von John Fiore war diesmal Carmen Giannattasio in der Hauptrolle besetzt. Ohne großes Diva-Gehabe, darstellerisch der Rolle der zwar schrecklich eifersüchtigen, am Ende menschlich so großzügigen Frau mit Zurückhaltung gerecht werdend, bot sie vokal eine fabelhafte Leistung. Wenige spitze Höhen beiseite, reüssierte Giannattasio sowohl in den liedhaften, dramatisch verzehrenden (ohne nach unten zu drücken) als auch koloraturleichten Passagen (4. Akt im Duett mit Barnaba) ganz vorzüglich. Die Sängerin ist zudem hochmusikalisch und völlig intonationssicher, an Intensität konnte sie konnte bis zum gefürchteten „Suicidio“ sukzessive zulegen.
Ihre im Kampf um die Gunst des Enzo Grimaldo siegreiche Gegenspielerin Laura wurde von Theresa Romano verkörpert. Nach großen Sopranrollen bis hin zur Turandot hat sich diese vom Timbre her an Grace Bumbry erinnernde Stimme dem dramatischen Mezzofach zugewandt. Mit Erfolg. Mit ihrer leuchtend warmen Stimme in Brokattextur bot sie einen exzellenten Kontrast zu dem kühleren Sopran der Giannattasio.
Marianne Cornetti ließ als blinde und der Hexerei bezichtigte Cieca, die von Barnaba brutal in einem Canale ertränkt wird, keinen Wunsch offen. Auch Angelo Villari glänzte mit seinem zwar nicht gerade sehr von verführerischem Schmelz gehätschelten Tenor mit einer grandiosen Technik und beeindruckendem Fokus. Insgesamt auf der robust-stimmkräftigen Seite zu Hause, war Villari in der berühmten Arie „Cielo e mar“ mit Gewinn um Differenzierung und Piani bemüht.
Der slowakische Bariton Dalibor Jenis gab mit dunklem Bassbariton den sprichwörtlichen Finsterling Barnaba, seines Zeichens Spion der Inquisition, mit passend brutal hinterhältiger Attitüde. Sein gequält gestöhnter Aufschrei, nachdem er der bereits toten Gioconda noch von seinem Rachemord an ihrer Mutter Cieca berichten will, um ihr Sterben noch „schuldbeladen“ unerträglicher zu machen, ging (mir) durch Mark und Bein.
Der kroatische Bassbariton Marko Mimica als glatt-machttrunkener Staatsinquisitor Alvise Badoero verströmte viril-samtigen Wohllaut, wie dies einst in dieser Rolle nur Nicolai Ghiaurov vermochte. Auch Philipp Jekal in den drei Rollen Sänger, Bootsmann Zuané und Gondoliere ist positiv, weil markant zupackend, zu erwähnen.
In der großen Balletteinlage im dritten Akt zum „Tanz der Stunden“ – Choreografie Gudrun Leben – imponierten insbesondere die Primaballerina Lisa Pavlov und Mihael Belilov als Enzo mit Geschmeidigkeit, technischer Perfektion und stupendem Bühnencharisma. Der Riesenapplaus, der auch das Ensemble und die zehn Damen des Corps de ballet miteinschloss, war vielleicht der phonstärkste des Abends.
Chor und Zusatzchor der Deutschen Oper Berlin (Einstudierung Jeremy Bines) erfüllten ihre Aufgaben mit Bravour und rhythmischer Genauigkeit, sich offenbar der Atmosphäre des Abends als Gala und Hommage für eine legendäre Produktion bewusst.
Ich glaube, niemand an diesem festlich gestimmten, der puren Schönheit der Kunstform Oper gewidmeten Abend hat sich in einem Museum oder einer reaktionären Anstalt gefühlt. Ich sah nur glückliche Gesichter. Manche waren vielleicht aus Nostalgie wegen des Bühnenbilds oder in Erinnerung an die legendäre Leonie Rysanek gekommen, manche, um diese selten gespielte Oper kennenzulernen, manche, weil sie einfach unterhalten sein wollten. Gäbe so ein Erfolg nicht von ungefähr bei Jung und Alt nicht Gelegenheit zur Reflexion für Intendanten oder Regisseure? Nichts gegen klug respektvolles Regietheater, das kann fantastisch sein. Aber: Nur die Hässlichkeit der Welt mit Hässlichkeit und Vulgarität auf der Bühne zu spiegeln oder die Oper vornehmlich als politisch ideologischen Raum zu sehen, ohne eine adäquate Geschichte zu erzählen oder auf die Poesie der Musik zu achten, will und kann nicht die Quintessenz dessen sein, was die Kunstform Oper ausmacht. Der gestrige Abend war daher auch so etwas wie ein sanfter Ruf nach einem sinnlich-ästhetischen Theater, wo der Inhalt des Stücks für sich selbst spricht und man für wenige Stunden den Alltag und die Grauslichkeit etwa von nuklearen oder nicht nuklearen EMP-Waffen & Co vergessen kann.
Endgültig Letzte Vorstellung der Produktion: 24.2.2024, 18h00
In Salzburg wird La Gioconda am 23.3. Premiere haben. Vorschau für Neugierige, wo auch Bühnenbildentwürfe zu sehen sind….: https://www.youtube.com/watch?v=xPqHeqmPrhc
Foto Waltenberger: Vorhang nach drittem Akt: v.l.n.r.: Jenis, Cornetti, Mimica, Romano, Giannattasio, Villari
Dr. Ingobert Waltenberger