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BERLIN / Deutsche Oper IL TRITTICO; Pinar Karabulut mit einer freakigen Comic-Monster-Science-Fiction WelttheaterfantasiePremiere

01.10.2023 | Oper international

BERLIN / Deutsche Oper IL TRITTICO; Premiere; 30.9.2023

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Pinar Karabulut mit einer freakigen Comic-Monster-Science-Fiction Welttheaterfantasie

Ein bunt skurriler Theatertrumpf ist es geworden, wie er so wohl nur in Berlin möglich ist. Nachdem sogar Christian Thielemann kürzlich die Komische Oper Berlin in Bezug auf das Repertoire und den auch bei der Premiere gesichteten Barrie Kosky als beispielhaft genannt hat, so ist mit der Neuproduktion des Puccini Dreiakters „Il Trittico“ durch das Team Karabulut, Flück, Vergho und Rüger der derzeit wohl verrückteste Opernabend Berlins zwischen Tragik und skurriler Comedy, und zwar nicht an der für solche Überfliegervorstellungen bekannten Komischen Oper, sondern an der Deutschen Oper Berlin zu erleben.

Was die überdrehte Drastik der darstellerischen Mittel und szenischen Umsetzung, aber auch den schöpferischen Übermut und eine wimmelnde Exzentrizität ohne Grenzen betrifft, so ist Pinar Karabulut im Gesamten zweifelsohne ein Hit geglückt. War „Il Tabarro“ noch gewöhnungsbedürftig und musikalisch uneben, so steigerte sich der Abend von Stück zu Stück bis zum humorvollen Horrortrash in „Gianni Schicchi“ zu einer Welttheater-Apotheose neongreller Farben und hitziger Temperaturen.

Für den Erfolg zeichnete zudem eine bis in die kleinsten Rollen hervorragende Besetzung und mit John Fiore als Einspringer für den erkrankten Donald Runnicles ein die innovative Partitur Puccinis an der Kippe von der Spätromantik zur Moderne in allen Details auskostender Dirigent zur Verfügung. Das Publikum genoss den Abend und fand – an der Phonstärke und Eindeutigkeit der Zustimmung gemessen – auch an der fantasievollen Inszenierung abseits jeglichen, für veristische Opern üblicherweise bevorzugten Realismus Gefallen.

Regisseurin Pınar Karabulut ist Berliner Opernbesuchern seit ihrer Inszenierung von Mark-Anthony Turnages Ödipus-Oper „Greek“ auf dem Parkdeck der Deutschen Oper Berlin ein Begriff. Schon damals machte sich ihre Vorliebe für bunt und grell bemerkbar. Für Puccinis Operntriptychon hat Karabulut die Idee des thematisch verbundenen Altarbilds als Triptychon in der kirchlichen Kunst aufgegriffen, mit der heiligen Maria in der Mitte, flankiert von Darstellungen höllischer Qualen und himmlischer Freuden. Auf Puccinis „Il Trittico“ übertragen heißt das „Suor Angelica“ im Zentrum, die mörderische Dreiecksgeschichte „Il Tabarro“ und die groteske Komödie „Gianni Schicchi“ an den Seiten.

Karabulut lässt die ersten beiden Teile ohne Pause hintereinander ablaufen, weil sie da einen gemeinsamen Kosmos an zwiespältigen Gefühlen und menschlichem Erleben in Zusammenhang mit der Suche nach dem Glück, nach der Liebe nach dem Leben verortet.  Auch wenn die Mittel und Wege dazu, sei es auf dem Schiff oder im Kloster, sich als ungenügend erweisen. Nach der Pause folgt mit „Gianni Schicchi“ die Katharsis.

 Zur szenischen Umsetzung der Idee hat Bühnenbildnerin Michaela Flück hinter einen knallroten Rahmen eine Drehbühne mit mehreren Spielebenen gesetzt. Düster dunkel mittels ins Publikum gerichteter Neonröhren sehen wir in „Il Tabarro“ einen schwarzfolierten Teich umgeben von einem Steg (gepritschelt wird auf Berliner Bühnen derzeit gerne und oft, wie etwa bei Henzes „Floß der Medusa“), eine Art stilisiertes gotisches Plastikkapellentor, ein weißes Spielzeughaus, einen begehbaren Pappmachéfelsen und eine Tribüne, deren Rückseite den Eingang zu einem Flammeninferno birgt. Die Rundkulisse dahinter zeigt Gebirge simulierende Arkadenbögen, umgeben von rosaflauschigen Wolken. Von oben schreit uns der Leuchtzug mit der Aufschrift „Lasciate ogni speranza, voi ch’entrate!“ aus Dante Alighieris „Die Göttliche Komödie“, Inferno III, 9 (Das Höllentor) entgegen. Die vernichtende Tragödie einer toten Beziehung nimmt ihren Lauf.

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Misha Kiria, Jonathan Tetelman. Copyright Eike Walkenhorst

Der großartige Bassbariton Misha Kiria in der Rolle des betröppelten cornuto Michele im langen roten Lackmantel könnte einem leidtun, wie er versucht, noch einmal die unsichtbare Mauer zu seiner Angebeteten flehentlich zu durchbrechen. Giorgettas (Carmen Giannattasio gibt im pinken Lackfetisch die schrille Flotte) Liebe zu ihrem Mann ist nach einem verlorenen Kind abgestorben. Statt einen Reparaturversuch zu starten, schaut sie sich lieber nach dem jüngeren, feschen Löscharbeiter Luigi um. Startenor Jonathan Tetelmann in neongrünem Athletikshirt und schwarzer Plastikhose als auch stimmlich wenig zimperlicher Macholover findet seinen Tod ertränkt im kalten Wasser. Die Personenregie beschränkt sich hier auf ein statisches Nebeneinander der wie verloren im Raum sich bewegenden Hauptfiguren.

Da das Regiekonzept vorsieht, dass auch die Figuren der anderen Stücke sich zumindest peripher ins Geschehen mischen, ist es hier Suor Angelica, die plötzlich erscheint und den toten Luigi einer Pietá gleich in die Arme nimmt. Ein starkes Theaterbild. In kleineren Rollen reüssieren insbesondere der Ya-Chung Huang als Il Tinca, die kontraaltorgelnde Annika Schlicht als La Frugola und der strahlende lyrische Tenor Andrei Danilov als venditore di canzonette und amante auf. Glücklich ist jedes Haus, das solch herausragende Ensemblemitglieder in seinen Reihen wieß.

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Mané Galoyan als Suor Angelica.  Copyright Eike Walkenhorst

Ganz anders die Atmosphäre und Stimmung in „Suor Angelica“. Auch hier gerät eine fremde Person, die Unheil bringt, in eine geschlossene Welt. Dieses Universum zeichnen Karabulut, Flück und die Kostümbildnerin Theresa Vergho, deren Stunde nun und in „Gianni Schicchi“ schlägt, nicht als klassische Klosterwelt, sondern als elysische Utopie einer reinen Frauengesellschaft. Die fließenden Kostüme, gelb-grün-hellblaue Skapuliere, lassen an eine gleichgeschaltete Sekte denken. Die türkisfarbenen Mühlsteinkrägen und die sichelförmigen Kopfbedeckungen erinnern in ihrer futuristisch bzw. von Science-Fiction Filme der 70-er Jahre inspirierten Form an ulkige Insekten. Jedenfalls haben es alle miteinander lustig. Es wird – angeführt von der Äbtissin (Lauren Decker) – heimlich geraucht, aus der Flasche Sekt getrunken und kindische Geschenke wie ein kleiner T-Rex Saurier oder Bonbons verteilt. Im hell und pastellig ausgeleuchteten (Carsten Rüger hat im Oszillieren der Farben tolle Stimmungen gezaubert), sonst mit denselben Versatzstücken, zu denen ein kleiner eingezäunter Garten sichtbar wird, versehenen Bühnenbild, führt man ein selbstbestimmtes, himmlisches Leben. Eine fiktive Fantasywelt in malve und hellblau, in der die Ordensdamen Genovieffa (Lilit Davtyan), Zelatrice (Annika Schlicht), Osmina (Stephanie Lloyd), Dolcina (Gyumi Park) und Infermiera (Arianna Manganello) unbeschwert und unschuldig ihren Hobbys und Neigungen nachgehen.

Bis Angelica Besuch von der Zia Principessa erhält. Dann rückt die Atmosphäre plötzlich gänzlich ins Surreale. Die Rückseite des Felsens gibt eine kleine Bühne frei, auf der die charismatische Violeta Urmana als nach wie vor imposante, in einen roten, totenkopfschillernden Umhang gehüllte, die Mächte des Todes verkörpernde Tante ihrer Nichte kurz und bündig das Gestorbensein ihres Buben verkündet. Eigentlich war sie nur gekommen, um Angelica wegen der bevorstehenden Heirat ihrer Schwester zu einem Erbverzicht zu bewegen.  

Mané Galoyan als Suor Angelica ist als berauschende Puccini-Sängerin der unumschränkte Star des Abends. Denn das beste Regiekonzept nützt nichts, wenn es nicht transportiert werden kann. Galoyan ist eine solche, traumwandlerisch die Transzendenz der Rolle erfüllende Künstlerin. Sie verfügt über einen grandios schillernden, lyrischen Sopran, deren unendliche, sul fiato schwebenden Piani im erschütternden Solo „Senza mamma, o bimbo, tu sei morto“ nichts weniger als magisch sind. In einem strengen Ritual begeht sie zum Publikum gewandt Selbstmord mittels des psychedelisch wirkenden Gifts einer Pflanze. In einem an den Rändern gelb fluoreszierend leuchtenden Mantel entschwindet sie in der Dunkelheit.

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„Gianni Schicchi“. Copyright Eike Walkenhorst

Für „Gianni Schicchi“ nach der Pause tummelt sich ein Panoptikum an schrägen Figuren auf der Bühne. Um das Bett des toten Buoso Donati (ganz köstlich Derrick Amanatidis, der noch als Toter von der Pizzaschnitte, an der er erstickt ist, abbeißt und sich dann wieder kameragerecht hindrapiert) in einem Alkoven-Guckkasten, an deren Rändern die Welt aus „Il Tabarro“ und „Suor Angelica“ sichtbar bleibt, ist die schrecklich geizig-gierige, erbschleimende Familie versammelt. Ein persiflierender Aufguss animierter Monster aus Addams Family, Hotel Transilvanien & Co. Grüngiftig, blau und rotgesichtig verrenken diese commedia dell’arte Lemuren Rückgrat und Köpfe, um an Esel, Florentiner Haus und Mühle zu kommen. Karabulut hat mit dieser trashigen Lesart einen veritablen Parforceritt an bitterböser Groteske geschaffen. Ein Stück absurdes Theater, das unter die Haut geht und das Publikum zu Lachstürmen hinreißt. Gesanglich war ein grandioser Ensembletriumph mit dem herrlich komischen Misha Kiria in der Titelpartie an der Spitze zu erleben. Das Outfit aus „Il Tabarro“ behält er, nun aber ungesund grün im Gesicht, bei. Mané Galoyan bestätigt als Lauretta mit einem honigsüß einschmeichelnden „O babbino caro“ ihren Rang als junge, neue Weltspitze im lyrischen Fach. Die Diva der Deutsche Oper Berlin, Annika Schlicht, wuchtet als penetrante Zita eine Charakterstudie der Sonderklasse auf die Bühne. Andrei Danilov ist ein attraktiver wie betörend höhenritternder Runiccio. Burkhard Ulrich (Gherardo), Karola Pavone (Nella), Michael Bachtadze (Betto di Signa), Andrew Harris (Simone), Dean Murphy (Marco), Arianna Manganello (Ciesca), Jörg Schörner (Maestro Spinelloccio), Markus Brück (Ser Amantio di Nicolao), Christian Simmons (Pinellino) und Gerard Farreras (Guccio) ergänzen das Ensemble in galliger Rage und hinreißender Spielfreude.

John Fiore (Sir Donald Runnicles soll die Vorstellungen am 13.10.2023 und 17.10.2023 übernehmen) dirigierte mit dem sich ab „Suor Angelica“ zu großer Form aufschwingenden Orchester der Deutschen Oper Berlin einen fluiden, sorgfältig detailgenauen, die geniale Instrumentierung liebevoll auskostenden Puccini.

Fazit: Ein eigensinniger, nie langweiliger, durchgedrehter Opernabend, der hervorragend funktioniert!

Weitere Vorstellungen: 2., 6., 8., 13., 17. Oktober sowie 9. und 14. Dezember 2023

Dr. Ingobert Waltenberger

 

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