BERLIN / Deutsche Oper: HÉRODIADE – Fulminante konzertante Aufführung – Premiere; 15.6.2023
Heiße Klangozeane in mystischer Liebesverzückung und imaginierten erotischen Fantasien, umrankt von Eifersucht, Rache und Tod
Clementine Margaine. Copyright: Bettina Stoess/Deutsche Oper Berlin
„Was für ein Orchester, was für eine Instrumentation […] Was sind wir klein, wir armen Studenten im Vergleich zu einem kolossalen Maestro von dieser Faktur.“ Der 23-jährige Giacomo Puccini nach der Mailänder Erstaufführung der Hérodiade am 24.2.1882 in einem Brief an die „cara Mamma“.
Religiöse Askese, alttestamentarische Wucht, wollüstige Avancen eines johannestriebigen Königs, Transzendierung sinnlicher Liebe, lyrische Verinnerlichung und orchestrale Tsunamis, all das unter einen Hut zu bekommen, schaffte Jules Massenet mit seiner betörend-exotischen Klangfantasie „Hérodiade“.
Eingebettet in eine politisch unstete Zeit der Besetzung Jerusalems durch die Römer, des Religionskonflikts zwischen römischer Vielgötterei, Judentum und Aufziehen des Christentums hat Massenet nach seiner immens erfolgreichen Oper „Le roi de Lahore“ (1877) seine neue „Opera ballo“ nach einem Libretto von Paul Milliet und Henri Grémont nach der Novelle „Hérodias“ von Gustave Flaubert ebenfalls wieder im orientalischen Milieu angesiedelt. Die Premiere des vom Mailänder Verleger Ricordi bestellten Stücks fand wegen des anrüchigen Sujets am 19.12.1881 in Brüssel statt. Sonderzüge haben damals mehr als 400 Pariser Melomanen zur Premiere gebracht. Bald aber folgten, wenngleich oftmals unter wilden Presseschlachten, Aufführungen in ganz Frankreich und darüber hinaus nach. Die Opéra de Paris setzte das Werk erst 1921, vierzig Jahre nach der Uraufführung, auf den Spielplan. Dann wurde es 200-mal in den darauffolgenden 20 Jahren programmiert.
Puccini liebte „Hérodiade“, Verdi konnte „nicht hinunterschlucken, dass der Heilige Johannes mit Salome schläft.“ Zumal allen klar war, dass Massenet sich Jean als Christus selbst und Salome als Maria Madgalena vorstellte. Um ein wenig nach dem Problem dieser Oper selbst für ein heutiges Publikum zu forschen, beschrieb neben der Tatsache, dass es sich um einen echten Hybrid zwischen statisch politischem Oratorium, sinnlichen Klangmalereien in den Balletten, aufgepeitschten hochdramatischen Tableaus im Sinne der alten Grand Opéra und intimen, nach innen gekehrten Monologen etwa der Salome oder des Jean handelt, der Kritiker Jules Lemaître 1893 im Aufsatz „Mystizismus auf dem Theater“ so: Das wollüstige Spiel bestehe darin, „aus den Religionen für den eigenen Genuss das herauszuziehen, was sie an Berührendem, Bewegendem, Plastischem und schließlich Sinnlichem haben.“
Ob diese Tabubrüche und das Lavieren zwischen den formalen Welten der französischen Oper des 19. Jahrhunderts heute noch wirklich zählen oder ob Massenets Musik nach wie vor vorurteilsbehaftet als parfümiert abgetan wird, sei‘s drum. Jedenfalls hat es dem Teil des Publikums, das gestern in der Premiere war (die schlechtest besuchte, die ich in Berlin je erlebt habe), nicht nur gefallen, sondern er war zu Recht vollkommen enthusiasmiert. Kein Wunder: Die Besetzung ist in dieser Geschlossenheit vielleicht nicht die den Namen nach glanzvollste, aber sicherlich die vokal und stilistisch überzeugendste, die man sich vorstellen kann. Vergleichsmöglichkeiten hatte ich neben mehreren Gesamtaufnahmen (die meisten sind leider vergriffen und nur noch antiquarisch erhältlich) etliche live: Ich war nicht nur bei der Premiere der Wiener Staatsoper am 12.2.1995 unter Marcello Viotti, in der Plácido Domingo, Juan Pons, Agnes Baltsa, Nancy Gustafson und Ferruccio Furlanetto in der Regie und den Bühnenbildern von Hermann Nitsch sangen, sondern bis zur letzten Aufführungsserie im Jahr 2003 mit José Cura, Philippe Rouillon, Agnes Baltsa, Barbara Haveman und Ferruccio Furlanetto (von der es auch einen Rundfunkmitschnitt gibt) bei allen gebotenen Besetzungen da.
Der Triumpf der Berliner Aufführung – wie klug, das Werk konzertant anzusetzen – lag zuerst einmal in den Händen des italienischen Dirigenten Enrique Mazzola, der an der Deutschen Oper Berlin sozusagen als Stammdirigent für ausgefallen französisches Repertoire regelmäßig engagiert wird. Mazzola gelang es, dem Orchester der Deutschen Oper Berlin und dem bestens präparierten in voller Stärke angetretenen Chor – immerhin wurde live für eine CD-Produktion aufgenommen – unzählige Details der immens reichhaltigen Partitur in voller Transparenz und dennoch imponierender Fülle aufzudröseln. Durch das auf der Bühne hoch sitzende Orchester und den noch höher platzierten Chor stürzten sich die Klangmassen im tutti auf das Publikum, gefühlt wie überwältigende tropische Regengüsse hernieder. Solche Duschen lasse ich mir gerne gefallen. Aber auch was die 68 Streicherstimmen u.a. zu Beginn, in Salomes Arie „Il est doux, il est bon“ und erst recht in Hérodes‘ berühmter Drogenfantasie „Vision fugitive“ an hitzigem Flirren und schwebenden Klängen hingezaubert haben, war sensationell. Zusätzlich kommt in „Hérodiade“ neben üppiger Holz- und Blechbesetzung noch ein Altsaxophon zum Einsatz, das Schlagzeug trägt neben einer großen Trommel und Becken noch mit Triangel, Militärtrommel, baskische Trommel, arabische Trommel, Glöckchen, Glockenspiel, Stahlstäbe, antike Becken und Tamtam mit zur großen Orchestershow bei.
Nicole Car, Matthew Polezani. Copyright: Bettina Stoess/ Deutsche Oper Berlin
Die erstklassige Besetzung wurde gestern von der australischen Sopranistin Nicole Car als Salome angeführt. Im Gegensatz zur grausamen, ich-bezogenen Kindsfrau von Oscar Wilde und Richard Strauss ist Massenets Salome reinen Charakters und ihre Liebe pur. Nicole Cars lyrischer Sopran auf dem Weg zum Spinto ist ideal für diese Partie, die von introspektiven poetischen Kantilenen bis zu den heftigsten Ausbrüchen in der finalen Auseinandersetzung mit Herodias zu Ende des vierten Akts in jeder Sekunde eine Art von feuriger Innigkeit verströmt. Car verfügt über einen in allen Lagen bruchlos geführten, nobel geführten Sopran, der in den unteren Registern gleichermaßen klangvoll anspringt wie in der purpur-silbrigen Mittellage betört und bei den leuchtenden hohen C’s, die noch immer Spielraum nach oben ahnen lässt. Dazu ist Car eine veritable Diva der Herzen, die wie einst die Freni ganz aus sich heraus ihre Stimme aufregend schön ohne jegliche persönliche Eitelkeit und Pomp einsetzt. Mit dem letzten herzzerreißenden Fluch „Ach verabscheuungswürdige Königin! Wenn es wahr ist, dass diese Hüften einst mich trügen. Hier! Nimm mein Leben und Blut zurück!“ erdolcht sich diese Salome am Schluss, nachdem ihr Jean mehr aus persönlicher Rivalität zu Herodes als aus politischen Motiven enthauptet wurde.
Ihre Mutter und Gegenspielerin Hérodiade ist mit der französischen Mezzosopranistin Clémentine Margaine hervorragend besetzt. Sie bringt für diese „Ortrud“ der französischen Opernliteratur den hochdramatischen Furor und das wilde Rasen einer tödlich eifersüchtigen Frau mit (was kann eigentlich Salome dafür, dass Hérode ihr nachstellt?), weiß aber zudem das Hin- und Hergerissensein im inneren Konflikt zwischen der Mutter und der Rivalin differenziert auszudrücken.
Etienne Dupuis als Hérode gibt den verträumten Tetrachen, der sich lieber in manischer Besessenheit über seine erotischen Bilder mit Salome übt als sich um Politik zu kümmern, mit seinem hellen, ausdrucksstarken Kavaliersbariton mehr als überzeugend. Er findet für die alles verzehrende Leidenschaft, den zauberischen Traum, das Flehen um Erhörtwerden, das schwärmerische Dahinschmelzen wie für seine Tristan‘schen Fantasien „nach einem gemeinsamen Sterben umschlungen im höchsten Rausch“ genauso passende Töne wie für die harsche Brutalität, mit der er seine kaltschnäuzigen Todesurteile für Jean und Salome fällt, nachdem letztere ihn zurückgewiesen hat.
Orchester, Chor, Dirigent und Solisten. Copyright: Bettina Stoess/Deutsche Oper Berlin
Den entscheidenden Unterschied zu vielen Besetzungen, die es auf der Bühne gab oder auf Platten zu hören sind, liegt in der Wahl für die Rolle des Propheten Jean. Waren Domingo, Carreras (Live Mitschnitt aus Barcelona 1984 mit Caballé, Veijzovic und Pons) oder Cura als typische „Latin Lover“ Tenöre in ihrer (hypersinnlichen) Emotionalität sicherlich faszinierend, so erscheint mir die spezifische Stimme des amerikanischen Tenors Matthew Polenzani rollendeckender. Der Met-Star Polenzani ist ein technisch hochversierter Stilist von Gnaden wie das einst Alfredo Kraus oder Nicolai Gedda waren. Sein instrumentaler geführter Tenor ist zu höchst differenzierten Piani und exquisiten Legatobögen befähigt. Jean ist ja durchaus zögerlich in der Annäherung der Salome, will zuerst, dass diese ihre Liebe zu ihm in mystische Liebe transzendiert. Erst im großen Duett im vierten Akt „Salome! Jean“, einer der bewegendsten Eingebungen von Massenet überhaupt, kommen die persönlicheren Gefühle offen aufs Tapet.
Das ehemalige Ensemblemitglied Marko Mimica leiht dem Astrologen Phanuel seinen profunden, charaktervollen Bass und greift als deus ex machina mit seinen Sterndeutungen in das etwas verworrene Geschehen ein. Aus dem Ensemble kommen Dean Murphy als Vitellius, Kyle Miller als Hohepriester, Sua Jo als eine junge Babylonierin und Thomas Cilluffo als Stimme aus dem Tempel hinzu.
Am Ende Ovationen für diesen raren französischen Opernschatz, der mit italienischer Verve und grandiosen Sangesleistungen garniert jedem neugierigen unvoreingenommenen Melomanen das Herz höher schlagen lässt.
Tipp: Einmal gibt es noch die Gelegenheit, sich die Aufführung in dieser Besetzung anzuhören. Und zwar am Sonntag, dem 18. Juni um 18h. Falls Sie Zeit haben und nahe genug sind, lassen Sie sich dieses genüssliche Musikspektakel nicht entgehen. Alle anderen dürfen sich schon jetzt auf die CDs freuen.
Diskografie – Anregungen
1957: Andrea Guiot, Mimi Aarden, Guy Fouche, Charles Cambon, Germain Ghislain, Orchestra de la Radio Hollandaise, Albert Wolff
1963: Georges Prêtre (Dirigent), Théâtre National de l’Opéra de Paris mit Régine Crespin (Salomé), Rita Gorr (Hérodiade), Albert Lance (Jean), Michel Dens (Hérode) und Jacques Mars (Phanuel). (La Voix de son Maître) (Auszüge)
1995: Michel Plasson (Dirigent), Choeur et Orchestre du Capitole de Toulouse mit Cheryl Studer (Salomé), Nadine Denize (Hérodiade), Ben Heppner (Jean), Thomas Hampson (Hérode) und José van Dam (Phanuel). (EMI)
1995: Valery Gergiev (Dirigent), Orchester und Chor der San Francisco Opera mit Renée Fleming (Salomé), Dolora Zajick (Hérodiade), Plácido Domingo (Jean), Juan Pons (Hérode) und Kenneth Cox (Phanuel). (Sony Classical)
Dr. Ingobert Waltenberger