Patricia Ciofi. Foto: Michael Trippel
Berlin/ Deutsche Oper: „HEART CHAMBER“ von Chaya Czernowin, Uraufführung – eine OP am offenen Herzen, 15.11.2019
Fast dunkel ist es auf der Bühne. Vor einer hellen Wand sitzen eine Frau und ein Mann auf zwei deutlich voneinander entfernten Bänken. Sie kennen sich nicht. – Ein Kontrabass schickt dunkle, bedrohliche Tonkaskaden in den Saal. Wird es gefährlich für die beiden, die nur Sie und Er genannten, verkörpert von der Sopranistin Patrizia Ciofi und dem Bariton Dietrich Henschel? Ja, ihre Herzen geraten in Gefahr.
Zwei erwachsene Menschen sitzen dort, vermutlich beide von einem eigenen Schicksal belastet. Abstand halten, nur niemanden zu sehr an sich heranlassen, denn das kann wehtun. Doch ein kleines Missgeschick hat große Wirkung. Die Drehbühne schwenkt, zeigt nun ein modernes Gebäude mit einer sehr langen Treppe, auf der Menschen hinauf- und hinuntergehen. Vielleicht eine Behörde.
Sie kommt die Treppe hinunter, ein Honigglas fällt aus ihrer Tasche. Er hebt es auf, berührt dabei versehentlich ihre Hand. Sie schauen sich kurz an. Er geht weiter nach oben, murmelt sich selbst entschuldigend „Ich wollte doch nur helfen“. Dann aber wenden beide den Kopf und blicken sich nochmals aus der Entfernung an. Mit einem Lächeln gehen sie weiter.
Eine Alltagsszene in Alltagskleidung, Sie in Rock und Bluse, er in Jeans und T-Shirt (Ausstattung: Christian Schmidt). Nur wenige Worte sprechen oder singen sie in dem 90-minütigen Werk, kaum ganze Sätze. Erstmals hat die israelische, teils in Berlin ausgebildete Komponistin Chaya Czernowin (geb. 1957), die in ihrer Jugend nach eigenen Worten Opern hasste, bei ihrer dritten Oper auch den bewusst knapp gehaltenen Text geschrieben.
Eigentlich ist der relativ unwichtig, die Gefühle zweier Menschen sind es, die sich kaum einander mitteilen können oder möchten. Da sie ihre plötzliche Zuneigung und die darauf folgenden Verwundungen nicht in Worte fassen können, übernehmen das ihre Inneren Stimmen.
Für die Sie tut es die Kontra-Altistin Noa Frenkel, für den Er der Countertenor Terry Wey. Hinzu kommt die schillernde Stimme der Neue Musik kundigen Frauke Aulbert sowie ein 16köpfiges, sehr zu lobendes Vokalensemble mit vier Sopranen, vier Mezzosopranen, vier Tenören und vier kräftigen Bässen.
Mit Sachkunde und Einfühlvermögen bekommt Dirigent Johannes Kalitzke bei dieser Uraufführung, alles im Griff, das in kleiner Besetzung spielende Orchester der Deutschen Oper ebenso wie das vierköpfige Ensemble Nikel und das versierte SWR Experimentalstudio, das für die Live-Elektronische Realisation plus Klangregie verantwortlich ist.
Sie alle tragen bei zur Sogwirkung von Chaya Czernowins avangardistischer, aber gut ins Ohr gehender Musik. Dieses Aufrauschende und wieder Versickernde, dieses Krasse und bald Träumerisch-Sanfte. Klanggebilde, die auch Zirpen und Atmen einschließen, ziehen mehr und mehr in ihren Bann. Selten hat das Publikum so konzentriert zugehört wie bei diesem Auftragswerk der Deutschen Oper Berlin. Und das ist auch nötig.
Dietrich Henschel, Patricia Ciofi. Foto: Michael Trippel
Andererseits besitzt die total passgerechte Inszenierung von Claus Guth, mit der er auch diese dritte Oper der vielfach preisgekrönten Chaya Czernowin verständlich macht, ein gewisses Ablenkungspotenzial. Noch mehr gilt das fürs Video-Design von roacafilm.
Doch beides ist nötig, um den Protagonisten Leben einzuhauchen. Sie zeigen wie Sie und Er, zwei Menschen wie Du und Ich, durch eine Berliner Einkaufsstraße streifen und glückliche Gesichter beim Spaziergang ins Grüne machen, den Sie vorgeschlagen hatte. Das gegenseitige Liebesgeständnis wird nicht gesungen, sondern sehr leise gesprochen, als sollte es niemand erfahren.
Doch so entspannt bleibt das Verhältnis der beiden nicht. Sie haben nachts Angstträume. Fast unmerklich haben sie einander ihre Herzkammern geöffnet, nun sind sie verwundbar. Sie möchte von ihm beschützt werden, sie küssen und umarmen sich, doch vor dem Weiter hat Sie plötzliche Furcht.
Sie machen einander nun Vorwürfe, beklagen, dass ihre geöffneten Herzen verletzt worden sind. Er verlässt sie enttäuscht, und das trifft sie hart. Zuletzt – und das erstaunt dann doch – finden sie wieder zueinander. „L love you“, bringt sie nun lächelnd über die Lippen. Auch er lächelt, hält aber vorsichtig Abstand. Ist die OP am offenen Herzen geglückt und die Narben verheilt? Wer weiß und für wie lange.
Zuletzt herzlicher Beifall für alle Beteiligten, auch für die anwesende Komponistin. Die Deutsche Oper ist jetzt um ein gutes und außergewöhnliches Stück reicher.
Ursula Wiegand
Weitere Termine am 21. 26. und 30. 11. sowie am 06. 12.