BERLIN/ Deutsche Oper: „Francesca da Rimini“ von Zandonai
Licht und Schatten
Premiere im Live-Stream: „Francesca da Rimini“ von Riccardo Zandonai am 14. März 2021 in der Deutschen Oper/BERLIN
In der subtilen Inszenierung von Christof Loy werden Dunkelheit, Schatten und Licht bei diesem im Jahre 1914 in Turin uraufgeführten Werk voll ausgekostet. Er verlegt die mittelalterliche Handlung in eine moderne Welt. Gleich zu Beginn erscheint der Spielmann als imaginärer Geiger, der den Fortgang der tragischen Ereignisse beschleunigt, sobald der erste Vorhang gefallen ist. Er wird gleichzeitig von heiteren Blumenmädchen empfangen. Blumen überlagern überhaupt das seltsame Ambiente, sie täuschen zunächst über das tragische Geschehen hinweg. Dies verleiht der Inszenierung eine gewisse Doppelbödigkeit. Francesca soll mit einem Sohn der Familie Malatesta verheiratet werden. Statt Giovanni wird jedoch dessen jüngerer Bruder Paolo geschickt, um Francesca zu täuschen. Hier setzt die packende Personenführung von Christof Loy im eher bürgerlichen Bühnenbild von Johannes Leiacker (Kostüme: Klaus Bruns) ein. Dieses bürgerliche Ambiente wird bei der Inszenierung immer beibehalten, die Burgen der Polenta und Malatesta bleiben ganz in einem imaginären Hintergrund. Eine idyllische Landschaft behauptet sich statt dessen hinter den großen Glasfenstern.
Hinzu kommt, dass Ostasio (Francescas Bruder) alle ihre Kontakte überwacht – aus Angst, dass die Lüge doch noch entdeckt werden könnte. Ihre Schwester Samaritana versucht ebenfalls vergeblich, die Katastrophe aufzuhalten, denn Francesca sieht Paolo – und beide entbrennen in heißer Liebe zueinander. Es ist eine Szenenfolge, die auf der Bühne in atemloser Geschwindigkeit und bewegender Emphase erzählt wird. Der Zuschauer kann sich dem Sog der Ereignisse nicht mehr entziehen und wird ganz und gar von ihnen gefesselt. Auch die ungeheure Schlacht zwischen den Malatestas und den Paridati findet hier auf offener Bühne statt – die bürgerliche Idylle wird brutal zerrissen und ins Chaos gestürzt. Paolo wird im Gesicht von einem Pfeil gestreift – und als Francesca die Wunde sucht, gesteht er ihr seine Liebe.
Im dritten Akt nehmen Francesca und Paolo dann die Rollen von Lancelot und Genevieve an. Auch zu Tristan und Isolde gibt es Reminiszenzen. Zu einer gewaltigen dramatischen Zuspitzung kommt es bei dieser fieberhaften Inszenierung im aufgeheizten vierten Akt, wo Francesca von dem ebenfalls in sie verliebten einäugigen Malatestino bedrängt wird. Malatestino verrät schließlich Francescas eifersüchtigem Gatten Giovanni die Liebesbeziehung von Francesca und Paolo. Obwohl Francesca die furchtbare Situation überwinden und ans Licht gehen will, nützt ihr dies nichts. Giovanni tötet dann in einem rasenden Wutanfall das von ihm entdeckte Liebespaar. Obwohl sich das Bühnenbild hier ja nie ändert, bleibt die Atmosphäre stets dicht und ist von vibrierender, elektrisierender Spannungskraft erfüllt, die sich auf das musikalische Geschehen in ganz hervorragender Weise überträgt. Christof Loy gelingt es, den Bruch in dieser biedermeierlichen Welt in all seiner Ungeheuerlichkeit zu betonen. Denn Francesca entscheidet sich, ihren rechtmäßigen Ehemann zu betrügen. Darin trifft er sich mit der feurigen Verstragödie Gabriele d’Annunzios, der hier die tragische Passion einer kompromisslosen Systemsprengerin darstellt.
Der Verleger Tito Ricordi hat dieses Werk als Libretto umgearbeitet. Carlo Rizzi spornt das fulminant musizierende Orchester der Deutschen Oper Berlin mitsamt dem Chor der Deutschen Oper Berlin zu Höchstleistungen an. Insbesondere der flimmernde Klangteppich wird gleich zu Beginn von Querflöte, Pikkolo und zweiten Violinen in irisierender und geheimnisvoller Weise beschworen, Triller zwischen g und fis sowie Mini-Cluster in den Tonfolgen fis, g und a beschwören hier einen suggestiven Klangkosmos, der sich immer mehr auszudehnen scheint. Rizzi gelingt es übrigens hervorragend, die rauschhaft-ekstatischen Momente dieser glutvollen Musik mit dem Orchester herauszuarbeiten. Anklänge an Erich Wolfgang Korngold, Franz Schreker, Alexander Skrjabin, Richard Wagner und Richard Strauss und natürlich die italienischen Veristen scheinen dabei fast selbstverständlich zu sein. Diese harmonischen Impulse übertragen sich auch auf die Sängerinnen und Sänger – allen voran Sara Jakubiak (Sopran) mit einem großen gesanglichen Resonanzraum sowie stählern-kraftvollen Spitzentönen. Jonathan Tetelman als Paolo il Bello (Tenor) steht ihr hier nicht nach, sein Einsatz beim hohen g besitzt ein transparentes Timbre sowie einen leidenschaftlichen Ausdruck. Der Tritonus-Ausruf von Francesca („Paolo!“) fügt sich hier nahtlos in den äusserst dicht gestalteten Klangteppich ein, dessen Grundstruktur von übermäßiger Quarte und verminderter Quinte deutlich geprägt ist. Die subtile Melodie der Viola pomposa in D-Dur prägt sich bei dieser Wiedergabe ebenfalls tief ein. So kommt es auch zu faszinierenden Licht- und Schattenspielen im flimmernden und flirrenden Orchester, was sich in geradezu beängstigender Weise bei den rasenden Eifersuchtsausbrüchen des empörten Ehemannes Giovanni Io Sciancato zeigt, dem als dem „Lahmen“ die Rolle des Henkers zukommt. Ivan Inverardi vermag diese Rolle mit machtvollem Bariton zu gestalten. In weiteren Rollen fesseln ferner Alexandra Hutton (Mezzosopran) als Francescas Schwester Samaritana, Charles Workman (Tenor) als „einäugiger“ Bruder Malatestino dall’Occhio sowie Samuel Dale Johnson als Francescas Bruder Ostasio mit fulminantem Bass. Außerdem fügen sich Meechot Marrero als Biancofiore, Mane Galoyan als Garsenda, Arianna Manganello als Altichiara sowie Karis Tucker als Adonella ausgezeichnet in das weitere Ensemble ein. Amira Elmadfa (Smaragdi), Andrew Dickinson (Ser Toldo Berardengo), Dean Murphy (Il Giullare), Patrick Cook (Il Balestriere) sowie Thomas Lehman (Il Torrigiano) zeigen ebenfalls famose Leistungen. Hinzu kommen die drei ausdrucksstarken Schauspieler Jan Gerrit Brüggemann, Farouk El Khalili und Hanno Jusek, die dieses erschütternde Seelenpanorama mit Energie und Leben füllen.
Eine weitere Besonderheit bei dieser Ausnahmeproduktion ist, dass der von Jeremy Bines sorgfältig einstudierte Chor nicht szenisch eingesetzt, sondern live aus dem Orchesterprobensaal auf die Bühne übertragen wird. Zum Einsatz kommen bei dieser außergewöhnlichen Partitur außerdem Celesta, ein riesiges Schlagzeugarsenal mit Triangel und Glockenspiel, Hörner, Trompeten, Posaunen und Bassposaune. Die Harfenarpeggien erreichen immer wieder eine erstaunliche Intensität. Ausgesprochen transparent hat man hier den Einsatz der komplizierten Bühnenmusik mit Solo-Bratsche, Flöte, Piffero, Klarinette in C, Viola pomposa, Laute, Trompeten, Bucinen und Glocken gestaltet. Für die Deutsche Oper Berlin ist diese Premiere seit der erzwungenen Schließung im November 2020 ein wichtiges Ereignis.
Alexander Walther