BERLIN / Deutsche Oper: DON CARLO; 25.5.2025
Copyright: Marcus Lieberenz
Es war sicher die kurioseste Ansage, die ich in 50 Jahren Oper erlebt habe. Die Sprecherin des Hauses war vor den Vorhang getreten und hatte sofort einmal klargestellt, dass sich alle Sängerinnen und Sänger wohlbefänden und sich auf den Abend freuten. Es sei aber ein blinder Passagier im Haus. O jemine, dachte ich, das ist wie ein Koffer zu viel im Bauch eines Flugzeuges, gleich müssen wir alle raus. Mitnichten. Im Regen hatte sich ein wohl wasserscheues Täubchen in den Publikumsraum verirrt und konnte nicht mehr rechtzeitig befreit werden. Aber man hoffe, es handle sich eine musikalische Taube, die die Aufführung in aller Ruhe ohne Geflatter genießen werde. Das war dann großteils auch so, bis auf einige Stellen, wo das Tier, das sich in der Beleuchtungsschiene etwa über der siebten-achten Reihe Parterre befand, unruhig wurde und ein paar Federn ließ. Die in still aber sichtbar den Publikumsraum segelten. Ob das Täubchen aus Nervosität auch anderes organisches Zubehör verlor, was bei nervösen bzw. ängstlichen Federvieh ja der Fall sein soll, davon habe ich in der zwölften Reihe jedenfalls nichts bemerkt.
Was lernen wir daraus: Wer packende Oper mit all ihren Unwägbarkeiten erleben will, muss unbedingt ins Repertoire gehen! Spaß beiseite: Diese Aufführungsserie ist – ich habe mir alle im Netz verfügbaren Besprechungen der sängerisch überwiegend nicht einhellig gut besprochenen Premiere sowie der verschiedenen Wiederaufnahmen angesehen – vokal wahrscheinlich die beste seit der Premiere am 23. Oktober 2011.
Die steinig düstere Inszenierung von Marco Arturo Marelli (optisch wuchtige Entsprechung der musikalisch requiemähnlichen Klanglandschaft durch bewegliche anthrazitfarbene Steinquader, die verschiedentlich ein Kreuz als Blickachse freilassen), stellt ein Musterbeispiel für klug gedachtes, repertoiretaugliches, werkgerechtes, bildhaft imponierendes Musiktheater dar. Sir Donald Runnicles ließ bei aller orchestralen Qualität keinesfalls mit Perfektion und friktionsfreier Balance zur Bühne aufhorchen (z.B.: Hörner gleich zu Beginn). Aber ihm gelang eine überaus spannungsreiche, dramaturgisch ausgefeilte, hoch emotionale Aufführung, die beim zahlreich erschienenen Publikum zu Recht Begeisterungsstürme auslöste.
Verdis Don Carlo ganz diesmal ganz nah an Schiller statt. Marelli spricht von Entsagung, einer Todesbesessenheit der Hauptfiguren, Macht und Religionswahn, einer unmenschlichen Umklammerung der Figuren durch die sie erdrückenden gesellschaftlichen und religiösen Zwänge und vom menschenverachtenden Terror der Kirche. Mitten darin wollen die zarten Pflänzchen von Liebe und Freundschaft, von Loyalität und politischer Ratio/Freiheitstreben gedeihen, enden aber im Kugelhagel der Repression.
Don Carlo funktioniert bei aller (Ge)Wichtigkeit von Orchester und Chor (der an diesem Abend, was Klangfülle und Präzision anlangt, einen grandiosen Job machte) nur, wenn sechs erstklassige Protagonisten zur Verfügung stehen. Bei mindestens vier der aktuellen Serie handelt es genau in diesen Rollen und nicht nur nach heutigen Maßstäben um absolute Weltklasse. Manche Premiere könnte bei dieser Besetzung neidisch werden.
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Allen voran Jonathan Tetelman in der Titelpartie. Der chilenisch-US-amerikanische Opernsänger mit dem glühenden Spintotenor gibt den um die innige Liebe zu Elisabeth von Valois ringenden, gegen die Unterdeckung von Flandern mutig rebellierenden Königssohn mit Franco Corelli-artigen metallischen Höhen, einer goldenen Mittellage und einer darstellerischen Intensität ohnegleichen. Da steht ein gewaschenes Mannsbild auf der Bühne, heroisch und doch um einer petrifizierten Staatsräson willen in seiner Liebe und Freundschaft gebrochen. Man glaubt Tetelman jeden Ton, jede Bewegung, seine gesamte spektakuläre Bühnenerscheinung hat die Aura der Authentizität (wie einst der großartige Luis Lima in dieser Rolle). Auch wenn sein überbordendes Temperament Tetelman bisweilen an seine Grenzen fortzutragen scheint. Da Jonas Kaufmann diesen jugendlichen Heldenpartien längst entwachsen ist, darf Tetelman aktuell als bedeutendster Tenor im jungen italienischen Spintofach weltweit gelten.
Ihm zur Seite kongenial der südkoreanische Bariton Gihoon Kim als Rodrigo. Dieser Marquis von Posa wartet mit einem in allen Lagen kernig männlichen, ausgeglichenen dramatischen Bariton mit toller Höhe auf. Vom Volumen und der nicht nur stimmlichen Gestaltungskraft her ist Kim ein wahres Naturereignis, wie man es alle Jahrzehnte vielleicht einmal findet. Kein Wunder, dass sein Debüt 2024 an der Metropolitan Opera erfolgreich war und bei den Salzburger Osterfestspielen 2026 (Donner im „Rheingold“) avisiert ist. Dass diesem Sänger eine ganz große Weltkarriere sicher ist, darauf darf man wetten.
Aber auch die Besetzung der beiden Damenrollen mit Federica Lombardi und Irene Roberts ist stimmig und überzeugt. Die lange Zeit auf die großen Mozart Frauenrollen spezialisierte Federica Lombardi hat sich an der Deutschen Oper Berlin als Anna Bolena versucht und mich mit ihrer damaligen Leistung nicht überzeugt. Ganz anders nun als Elisabeth. Unnachahmlich königlich, wie das einst nur die frühe Gwyneth Jones auf die Bühne wuchten konnte, ist Federica Lombardi eine ideale Elisabeth. Im richtigen Maße distanziert und damenhaft elegant, bildet ihr edler Gesang und ihr Spiel den dramaturgisch passenden Kontrast zum draufgängerischen Carlo des Jonathan Tetelman. Mit der den Finalakt eröffnenden Arie „Tu che le vanità“ rührt Lombardi in der Vielschichtigkeit und farblichen Textur der zum Ausdruck gebrachten widerstreitenden Gefühle zu Tränen. Alle Versprechen von Glück sind dahin, ihre Hoffnungen erweisen sich als Trugbilder, es gilt Abschied zu nehmen.
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Als Elisabeths Rivalin um die Liebe des Infanten, Prinzessin Eboli, ist Irene Roberts mit ihrem höhentigernden Mezzo bestens aufgehoben. Zehn Jahre lang war die blendend aussehende Amerikanerin Ensemblemitglied der Deutschen Oper Berlin. Aktuell steht Irene Roberts vor allem mit ihren Interpretationen der Venus, Brangäne und Kundry im internationalen Rampenlicht. Aufhorchen lässt die Sängerin mit ihrem geplanten Rollendebüt als Sieglinde in der nächsten Spielzeit an der Bayerischen Staatsoper. Ihre Vielseitigkeit stellte sie gestern mit einer top Interpretation der Eboli unter Beweis. Vor allem die dramatischen Ensembles mit Eboli und die zweite Arie „O don fatale“ dürfen als akklamierte Höhepunkte des Abends gelten. Frau Roberts stehen zudem die nötigen Zwischentöne zur Verfügung, um dem Charakter der tief verletzten, heillos eifersüchtigen, aber keinesfalls monströsen Frau Kontur zu geben.
Alex Esposito als König Philipp II. rückt darstellerisch die gebrochenen Seiten des unter der Fuchtel der Kirche stehenden, ungeliebten Monarchen in den Vordergrund. Leid könnte der blutgetränkte Herrscher einem tun, wenn er mit dem Großinquisitor wie auf einem Basar um das Leben des Vertrauten Posa ringt und verliert. Ebenso, wenn er vor die Trümmer jeglichen privaten Glücks gestellt, resigniert. Esposito ist ein guter Philipp. Zur obersten Liga in der Partie gehen ihm eine Portion Schwärze und Volumen in der tiefen Lage sowie Flexibilität in der Phrasierung und Legato der ruhigeren Passagen in der Höhe ab.
Der Hüne Patrick Guetti, Ensemblemitglied des Hauses, als Großinquisitor klingt so bedrohlich und grobschlächtig, wie einst Richard Dawson Kiel in seiner Rolle als Beißer im James Bond 007 „Der Spion, der mich liebte“ aussah. Das passt natürlich optimal zur brutal harten Gangart des Kirchenfürsten, die im Widerspruch zu den durch persönliche Involvierung differenzierteren Handlungsmustern der übrigen Protagonisten steht.
Ein großartiger, dichter, musikalisch mitreißender Opernrepertoireabend, den alle, die dabei waren, so bald nicht vergessen werden. Außer der umwerfenden Sängerschar nicht zuletzt kurioserweise dank der unfreiwillig involvierten Taube, die zwar einige Federn ließ, aber sonst den Abend nicht weiter störte.
Foto: Ingo Waltenberger
Dr. Ingobert Waltenberger