BERLIN/Deutsche Oper: DIE MEISTERSINGER VON NÜRNBERG am 18. Juni 2022
„Die Meistersinger“ nach Richard Wagner
Copyright: Thomas Aurin
Mit den neuen „Meistersingern von Nürnberg“ an der Deutschen Oper Berlin lieferte das Regie-Trio Jossi Wieler, Anna Viebrock und Sergio Morabito nach ihrem völlig gegen die Wagnersche Dramaturgie inszenierten „Lohengrin“ bei den diesjährigen Salzburger Osterfestspielen ein weiteres „Meisterstück“ ihrer stückeverfremdenden, ja bisweilen im Gegensatz zum eigentlich Komponierten stehenden „Regieversuche“ ab. Denn von einem Regie-Konzept mag man auch angesichts der dabei wie auch in Salzburg zahlreichen handwerklichen Fehler gar nicht erst reden. Nicht zuletzt sie führten auch zu einer mehr oder weniger großen Verständnislosigkeit beim Publikum. Anna Viebrock, eigentlich bisher immer nur als Bühnenbildnerin geführt und auch im Dramaturgen-Gespräch mit Sebastian Hanusa im Programmheft auf das Bühnenbild angesprochen, die also nun offenbar Regisseurin und Bühnenbildnerin in Personalunion ist, meint zunächst einmal, dass man „so ein Stück erst einmal richtig kennenlernen“ muss, „und versucht zunächst, den ganzen Ballast vorangegangener Inszenierungen zu ignorieren, um mit einem freien Blick auf das Stück selbst zu schauen.“ Das ist zunächst mal eine Binsenweisheit, und den sog. Ballast hat bereits Katharina Wagner in Bayreuth 2007 von Hans Sachs in die Tonne, einen Container, werfen lassen. Warum also immer wieder von vorn anfangen mit der Ballastbefreiung der „Meistersinger“? Könnte man nicht einmal auf eine ganz andere Idee kommen, möglicherweise aus dem Werk selbst heraus und den Intentionen Richard Wagners mit ihm?!
Nun, für Berlin hat das Trio, wie Anna Viebrock unterbreitet, in einem in den 1920er Jahren erschienenen Buch des deutschen Dirigenten, Intendanten und einflussreichen Musikkritikers Paul Bekker (1882-1937) mit dem Titel “Richard Wagner. Das Leben im Werke“ entdeckt, „dass es in den ‚Meistersingern‘ erst einmal um das Singen geht, genauer um den Vortrag des zu Singenden und um dessen Darstellung und damit eigentlich um das Theater.“ Auch Jossi Wieler ist überzeugt, dass das zentrale Thema des Stücks das Singen ist und damit die Welt der Musik. Das erscheint dem tatsächlichen oder vermeintlichen Kenner des Werkes sicher nicht allzu überraschend, bildet aber das entscheidende Motiv für den Regieversuch des Trios: Denn man abstrahiert kurzerhand von der Wagner angesichts der sozialen und politischen Situation um 1560 auf deutschem Boden so wichtigen Idee, die Standesbünde mit ihrem Freiheitsgedanken, der sich auch über die Kunst – wie das Meistersingen – artikulierte, in ihrer Bedeutung für den sozialen und kulturellen Zusammenhalt darzustellen.
Stattdessen dichtet man alle Figuren einfach fundamental um: Man verlegt das Stück kurzerhand in eine Musikhochschule. Pogner ist nicht mehr Goldschmied, sondern Gründer, Direktor und Mäzen in einer Person, der die Schule nun in eine Stiftung überführen will und einen geeigneten Schwiegersohn für seine Tochter Eva sucht, die diese dann leiten sollen. Hanz Sachs hat mit allem, nur nicht mit Schuhen zu tun, denn er ist nun der bunte unkonventionelle barfüßige Vogel, als Schlagzeuglehrer und Musiktherapeut ein Außenseiter, der sich um das Körperliche der Studenten kümmert. Natürlich fängt man damit das ebenfalls offenbar aus Aktualisierungsdrang gewünschte Thema der Übergriffigkeit ein, denn Sachs hat ein erotisches Verhältnis mit Eva. Professor Beckmesser ist wohl ein Gesangslehrer. David ist nicht mehr der angehende Liebhaber Magdalenas, sondern der Meisterschüler von Dozentin Magdalena, eine Anlehnung an den Jelinek-Roman „Die Klavierspielerin“ und seine Verfilmung durch Michael Haneke.
Und wenn es um eine Musikhochschule geht, hat sich Frau Viebrock gleich an die Münchner Musikhochschule erinnert, die sich ja im früheren „Führerbau“ in München befindet. Damit konnte sie gleich an das „Thema kontaminierter Räume und böser Orte anknüpfen“, das sie sehr interessiert. Damit war dann auch schon das auf Dauer enorm langweilende Einheitsbühnenbild vorgegeben, bei dem ihr Torsten Gerhard Köpf und Charlotte Pistorius assistierten, die beide als „Ko-Bühnenbild“ geführt werden, während es die Stelle „Bühnenbild“ nicht gibt. Das liest man normalerweise immer ganz anders. Es wurde also der unter solchen Umstanden zu erwartende große braune holzgetäfelte Saal mit einer Heizkörperbrüstung ganz hinten, auf der sich vor allem im 2. und im 3. Aufzug sehr viel abspielt und die Sänger nicht nur auf die große Distanz alleingelassen werden, sondern hinter sich auch noch einen bühnenhohen schallschluckenden Vorhang haben statt einer festen Resonanzkulisse. Denken die Regietheater-Apologeten eigentlich gar nicht mehr daran, dass diese Herrschaften auch noch singen müssen und ihr Gesang noch in der hintersten Reihe der obersten Ränge ankommen sollte?! Dazu gehört auch das eifrige Bodenturnen, das Sachs als Musiktherapeut absolvieren muss und nicht unbedingt stimmförderlich ist. Also gehen Sachs, Stolzing und David bei ihren Auftritten gern von ganz hinten nach vorn, um wahrgenommen zu werden.
Viebrocks Bühnenraum, der von Olaf Freese relativ variationsarm ausgeleuchtet wird, wenn man man von der Prügelszene absieht, ist übrigens „ein Hybrid durch die dort eingebauten, modernen Lehrerzimmer, die es so in München nicht gibt.“ Da sind kleine graue Zellen, in denen Sachs und andere Lehrer offenbar unterrichten. Aus einem Zimmer schafft er im 2. Aufzug einen Riesensack mit bunten Plastikschuhen auf die Bühne, die er dann zur allgemeinen Belustigung auf ihr verteilt und die später auf der „Festwiese“ den Nürnbergern als kollektives Schuhwerk dienen. Der an der Deutschen Oper bei Wagner wohl unverzichtbare Konzert-Flügel (Herheim-„Ring“) feiert auch hier fröhliche Urständ. Im 3. Aufzug spielt Beckmesser auf ihm sein Werbelied, während die Beckmesser-Harfe durch Virginie Gout-Zschäbitz aus dem Graben erklingt. Im 2. Aufzug, in dem laut Sergio Morabito in der Prügelszene „das Surreale, das Unheimliche und Irreale umfasst“ spricht Viebrock vom „Morphen meines Raumes“. Was aber dem Zuschauer tatsächlich auf die Nerven geht, ist das unentwegte Hereinbringen und wieder Wegräumen von Unmengen von Konferenzstühlen aus Holz und Stahl. Man meint manchmal, man befinde sich in Eugène Ionescos „Die Stühle“. Das Herumgetue mit dem Mobiliar untergräbt immer wieder auch eine sinnvolle Personenregie. Aber man erlebt in letzter Zeit immer mehr, dass beim Wagner-Theater Sänger und Choristen mit dem Beschaffen und Zurechtstellen ihres Sitzmobiliars zugange sind – offenbar ein neues Stereotyp, wohl kaum aber mehr als Einfallslosigkeit der Regie.
Es gibt auch vieles andere, was verstört und eigentlich gar nicht den strengen Regeln folgt, die das Regieversuchs-Trio den Musikhochschulen unterstellt, und erst recht nicht „dem bösen Ort“. So ist Hans Sachs offenbar Alkoholiker und einen Großteil des Abends mit einer Flasche Jack Daniels unterwegs, mit der er am Ende des 2. Aufzugs Stolzing fast zu Tode schlägt, um die Flucht zu verhindern und ihn im 3. erst wieder aufpäppeln muss. Da ist das Stück also alles andere als Komödie, wie zu sehen beim Einführungsvortrag empfohlen wurde. Während Sachs den Fliedermonolog auf der Turnmatte singt, kopulieren im Hintergrund über fast 20 Minuten – freilich züchtig in Rock und Hose – sechs Pärchen, er mit ihr, sie mit ihr und er mit ihm, ganz wie’s sich ergibt. Das vielleicht Tollste ist aber die Knutsch-Maus Eva, die, kaum ist der Vorhang oben (immerhin, er war zum Vorspiel mal geschlossen!), mit Stolzing um die Wette knutscht. Sie deutet sogar schon einen Kopulationsversuch im Stehen an, lange bevor er sie fragt, ob sie „schon Braut“ sei… So geht es den ganzen Abend weiter, bis zur „Festwiese“ wird geknutscht, wo man nicht mal die Aufforderung Sachsens wahrnimmt, das Preislied zu singen und noch vor dessen Schlussansprache das Opernhaus über das Parkett verlässt. Dass Sachs nach seiner Ansprache vom „eigenen Pathos eingeholt und geradezu verschluckt“ wird, wie Morabito, der hier neben Hanusa übrigens auch sein eigener Dramaturg ist, schreibt, ist durchaus einsichtig. Es hat aber mit der Figur, wie sie in dieser Produktion gezeigt wird, nichts zu tun – ein Sammelsurium von verschiedenen Assoziations-Aufforderungen, die dramaturgisch nicht ausgereift zusammengestellt wurden und den Betrachter auf jeden Fall im Nebel lassen, wenn er das Programmheft vorher nicht intensiv studiert hat. Die Pausen reichen nicht dazu.
Nun gab es trotz allem aber auch noch Sänger an diesem Abend. Der mit Abstand beste war Klaus Florian Vogt als Stolzing, der sich mit ihm sicher eine Paraderolle erarbeitet hat und sie nicht nur mit seinem belcantohaften Timbre schön phrasieren kann sondern auch durch einen relativ dramatischen Ausdruck viel Charakter in die Partie einbringt. Leider ist Heidi Stober als Eva alles andere als mit Vogt auf Augenhöhe. Ihre Stimme ist einfach zu klein, um der Figur, die sie aber sehr intensiv darstellt, die nötigen Konturen zu geben. Johan Reuter ist auch nicht wirklich ein großer Sachs und sollte es hier wohl auch gar nicht sein. Seiner Stimme fehlt es an heldenbaritonaler Klangschönheit, um voll überzeugen zu können. Hingegen ist Albert Pesendorfer ein – am Ende völlig verzweifelter – exzellenter Pogner mit seinem voluminösen und gut geführten Bass. Philipp Jekal schlägt sich in der hier noch viel undankbareren Rolle des Beckmesser mit Bravour. Sein Bariton ist klangvoll, hat Volumen, und der Sänger ist sehr musikalisch. Thomas Lehman singt einen guten bürokratischen Fritz Kothner. Annika Schlicht verleiht der Magdalena ihren üppigen Mezzo, während ihr Meisterschüler, wohl in Personalunion mit Sachs, Ya-Chung Huang als David, die Rolle in einer ganz ungewöhnlichen Konzeption bestens verkörpert, aber für sie doch eine zu kleine Stimme hat. Dass er zum Balance-Üben immer wieder auf einem Bein stehen muss wie ein Flamingo, zeugt zwar von guter gesanglicher Lehrpraxis, wirkt im Verlauf des Abends aber nur noch lächerlich. Dass die Stimme des Nachtwächters von Günther Groissböck aus dem Off klar hörbar über Tonband kommt, ist eine weitere Eigenart dieser Produktion, bisher noch nie gehört – und hoffentlich nie wieder! Die „kleinen Meister“ waren mit Gideon Poppe, Simon Pauly, Jörg Schörner, Clemens Bieber, Burkhard Ulrich, Stephen Bronk, Tobias Kehrer und Byung Gil Kim gut besetzt.
Markus Stenz leitete das Orchester der Deutschen Oper Berlin mit dem für dieses Ensemble gewohnt guten Wagner-Sound. Das Vorspiel klang fast etwas pathetisch und damit noch nicht so recht passend zu dem, was danach zu sehen war. Aber es gab immer wieder ruhige Momente, wo einzelne Gruppen und Soloinstrumente sich auszeichnen konnten und denen Stenz, der auch die Sänger stets gut im Blick hatte, den Raum dazu gewährte. Der von Jeremy Bines einstudierte Opernchor und der Extra-Chor der Deutschen Oper Berlin waren eine starke Säule des Abends mit großer stimmlicher Intensität und hoher Transparenz. Das „Wach auf!“ war eine Wucht!
Was aber einem Inszenierungsstil wie bei diesen „Meistersingern“ an der DOB vorgeworfen werden kann, ist eine nahezu völlige Nichtbeachtung des Librettos und der Partitur, also der Musik, die ja gerade bei Wagner so viel, wenn nicht alles aussagt. Aber daran glauben Regietheater-Regisseure wie dieses Trio scheinbar schon lange nicht mehr. Es geht nur noch um neue Deutungsversuche bis -hoheit unabhängig von der Musik und der ursprünglichen Motivation der Komponisten, das Stück überhaupt zu schreiben.
Derselbe Paul Bekker, der die Idee zur Verlegung der Handlung in eine Musikhochschule gab, schrieb zum 50. Todestag Wagners in der NZZ 154. Jg., Nr. 261 am 12. Februar 1933 zu Wagners Musik: „… indem er gleichzeitig die theatralische Spielkraft der Musik neu erkannte. Aus dieser Übereinstimmung von Handlung und Musik erwächst das theatralische Gesetz, erwächst die Magie der Wagnerbühne, erwächst die Besonderheit ihrer in sich stets wahren, dabei doch stets im Bannkreis des theatralischen Spieles bleibenden Scheinhaftigkeit.“ Steht im selben Programmheft!
Wenn es mit der Wagner-Rezeption so weiter geht wie in Berlin an der Deutschen Oper, sollte man in Zukunft schreiben „Die Meistersinger von Nürnberg“ nach Richard Wagner…
Klaus Billand