BERLIN / Deutsche Oper: DIE ÄGYPTISCHE HELENA, 19.3.2016
Festspielwürdige Wiederaufnahme dieses Kriegs-Heimkehrerdramas mit Happy End
„Das Märchenhafte ist das Selbstverständliche. Es verliert sofort seine Existenz, wenn wir es zu erklären versuchen.“ (Hans Erich Nossack)
Im Jänner 2009 hatte diese herausragende, ironisch gebrochene Produktion des Marco Arturo Marelli (wie immer für Inszenierung und Bühne verantwortlich) Premiere. Die Wiederaufnahme mehr als sieben Jahre später ist gerade einmal die sechste Aufführung seit der Premiere. Das zeigt, wie wenig Intendanten und Dramaturgen noch immer dieser von der Musik her wunderbaren Oper des Richard Strauss vertrauen. Die Musik steht in ihrer feinsinnigen Kunstfertigkeit, ihrer Virtuosität, in ihrer Emphase, Dramatik und vokalen Entäußerung kaum derjenigen der Frau ohne Schatten nach. Leider handelt es sich aber um das mit Abstand schwächste Libretto des Hugo von Hofmannsthal und der Text bleibt einem wirklich manchmal förmlich im Halse stecken. Gott sei Dank kann die Deutsche Oper mit einer exquisiten Besetzung aufwarten, denen dieses Schicksal nicht widerfährt, sondern die selbst die vertracktesten Sprünge, Höhen und Tiefen der Partitur nicht nur singen können, sondern glänzend aufleuchten lassen. Allen voran die brillante Ricarda Merbeth als Männern nicht abgeneigte Helena, der Höhentiger Stefan Vinke als gedemütigter rachelüsterner Menelas und die charmante Eheretterin Laura Aikin als Zauberin Aithra.
Da die Ägyptische Helena nicht Opern-Alltagskost ist, kurz zur Handlung: Die Zauberin Aithra wartet auf den Gott Poseidon, ihren Geliebten – doch vergeblich. Ihre Aufmerksamkeit wird auf ein vorbeifahrendes Schiff gelenkt, auf dem Menelas Helena gerade erstechen will. Sie sind auf der Rückfahrt von Troja; Aithra entfesselt einen Sturm, das Schiff kentert, Menelas trägt Helena an Land. Aithras Elfengeister locken ihn weg und machen ihn glauben, sowohl Paris als auch Helena ermordet zu haben. Er trinkt Aithras Trank des Vergessens – so kann ihm eingeschärft werden, dass die Helena, um derentwillen Troja belagert wurde, nur ein Phantom und seine wirkliche Gemahlin während des Kriegs in Ägypten gewesen sei.
Von Aithra als versöhnte Eheleute an den Atlas gebracht, entsteht dank Helenas Schönheit auch dort Verwirrung. Der Beduinenfürst Altaïr und einer seiner Söhne verfallen ihr. Zur Katastrophe kommt es, als Menelas den jungen Da-Ud – Paris gleich – auf der Jagd tötet. Aithra befreit das Paar. Helena will zukünftig mit Menelas ohne Lüge leben. Vermag das Erscheinen des gemeinsamen Kindes Hermione, diesem Vorsatz Zukunft zu geben?
Marco Arturo Marelli inszeniert dieses etwas krause von Hofmannsthal und Strauss als mythologische Operette konzipierte Werk als ironisches Ehedrama mit therapeutischen Hintergrund, als erotische Farce mit Augenzwinkern, als Zauberoper aus tausendundeiner Nacht. Das ist gut so, denn es nimmt dem Stück das Pathos, dem schon der geniale Komponist selbst in seinem „technischeren“ Altersstil nicht auf den Leim gegangen ist. Marelli lässt die Handlung nach dem Ersten Weltkrieg in einem Hotel in Kairo spielen. Die mittels Drehbühne rasch wandelbare Szenerie wechselt vom Foyer in diverse Salons und Schlafzimmer. Eine Art surrealer Traumbühne, wo Chesterfield Sofas schon mal an der Wand hängen und Fototapeten-Minaretts auf dem Kopf stehen.
Der nach zehn Jahren völlig traumatisierte Kriegsheimkehrer Menelas trifft auf die eher einer Kalmanschen Operette als dem Götterhimmel entstiegene Helena, einer lustigen Strohwitwe, die durchaus weiß, wo es lang geht. Zur Therapie (Hofmannsthal hat seinen Sigmund Freud gut studiert) wendet Aithra allerlei Tricks an, darunter verabreicht sie den beiden jede Menge an Drogen, um ihren Zweck zu erreichen. Das soll schon Strauss zur Bemerkung veranlasst haben, es gebe im Stück einfach „zu viele Tränke“. Die Apotheose am Ende des Werks ist dennoch umwerfend und erinnert an Ariadne oder Die Frau ohne Schatten.
Die jetzige Aufführung in Berlin gerät zum Triumph für Richard Strauss und das Haus. Ricarda Merbeth hat keinerlei Mühe mit der immens anspruchsvollen Rolle, ihr flexibler Spinto meistert selbst die Stratosphären der Partitur mit Leichtigkeit und Silberstrahl, die berühmte zweite Brautnacht zu Beginn des Zweiten Aufzugs gelingt prächtig. Ihr zur Seite singt Stefan Vinke einen der Figur entsprechend grobschlächtigen Menelas mit unerschöpflichen Reserven und phänomenalem Durchhaltevermögen. Auch er hat keinerlei technische Mühe mit der elend hohen Tessitura dieser typisch Strauss‘schen Tenorwurzenrolle. Mit Aithra hat Richard Strauss eine zweite Sopranhauptrolle geschrieben. Laura Aikin triumphiert äußerst apart aussehend und schönstimmig auf allen Linien und heimst den vielleicht stärksten Schlussapplaus ein. Die Kontraaltpartie der alles-wissenden Muschel wird von Ronnita Miller bis in die tiefsten Tiefen wunderbar georgelt, Altair und Da-Ud von den Herren Derek Welton und Andrew Dickinson mit Bravour gemeistert. Aber auch die Erste Dienerin der Alexandra Hutton, die Zweite Dienerin der Stephanie Weiss und die drei Elfen (Elbenita Kajtazi, Alexandra Ionis, Rebecca Raffell) belegen das hohe Niveau des Ensembles. Mit dem Orchester der Deutschen Oper Berlin wurde hörbar gut geprobt. Unter der zupackenden Leitung des Andrew Litton klingt der Orchesterpart saftig opulent, aber stets mit der nötigen Durchhörbarkeit der einzelnen Instrumentengruppen. Selbst wo es vielleicht ein Quentchen zu laut war, hatten diese Solisten von Rang keinerlei Mühe, ihre Stimmen über die Orchesterwogen hinweg in den Raum zu schleudern. Das Publikum hat das gesamte Ensemble, Orchester und den Dirigenten würdig und ausgiebig für den denkwürdigen Abend gefeiert.
Die Aufführungen der Ägyptischen Helena finden im Rahmen der Strauss-Wochen an der Deutschen Oper Berlin statt, in denen in der Zeit vom 12. März bis 17. April neben der Helena noch Die Liebe der Danae, Salome, Elektra und Der Rosenkavalier zur Aufführung gelangen.
Hinweis: Die Vorstellungen von DIE ÄGYPTISCHE HELENA am 1. und 8. April 2016 werden von Deutschlandradio Kultur aufgezeichnet. Die Ausstrahlung erfolgt voraussichtlich am 4. Juni 2016 ab 19.05 Uhr.
Tipp: Von dieser von der Tonträgerindustrie sträflich vernachlässigten Oper gab es einen offiziell veröffentlichten Live-Mitschnitt aus der Wiener Staatsoper vom 5. Dezember 1970 (RCA) unter Josef Krips mit Gwyneth Jones, Jess Thomas, Edita Gruberova, Mimi Coertse, Peter Schreier und Peter Glossop. Es wäre an der Zeit für eine Neuedition dieser einzigartigen Aufführung.
Dr. Ingobert Waltenberger